Von Sergei Chudijew
In einer kürzlich in der Zeitschrift Profil erschienenen Ausgabe argumentiert der Politikwissenschaftler Dmitri Suslow, dass Russland eine Kernexplosion als Demonstration in Betracht ziehen sollte. Er stellt die These auf: “Um die Entschlossenheit Russlands glaubhaft zu machen und die Bereitschaft zu einer Eskalation zu zeigen, sollte man eine Demonstration, nicht einen Einsatz, einer Atomexplosion in Erwägung ziehen. Ich erhoffe mir, dass die psychologischen und politischen Folgen eines solchen Atompilzes, übertragen in Echtzeit auf allen globalen Fernsehkanälen, den westlichen Staatsführern die Angst vor einem Atomkrieg, die seit 1945 Großmachtkriege verhinderte und mittlerweile weitgehend in Vergessenheit geraten ist, wieder ins Gedächnis ruft.”
Solche Ideen sind nicht ungewöhnlich. Immer wieder finden sich in den Medien Aufrufe, die Eskalation gegenüber dem Westen voranzutreiben und die nukleare Bedrohung zu intensivieren.
Doch solche Äußerungen haben ausschließlich eine negative politisch-psychologische Wirkung. Betrachten wir diese in ihrer Gesamtheit.
In einem Zeitalter, in dem das Internet jedem die Möglichkeit gibt, seine Meinung zu äußern, unterstützen leidenschaftliche Patrioten einer Seite unbeabsichtigt ihre Gegner.
Kürzlich stieß ich online auf eine Diskussion, in der ein russischsprachiger Emigrant in den USA seiner Verwunderung Ausdruck verlieh über die naive Rhetorik ukrainischer Amtsträger, die behaupteten, ein Sieg der Ukraine würde zu Friedensbedingungen führen, die katastrophaler wären als der Vertrag von Versailles. Diese Aussagen, wie das Zerstückeln Russlands und das Entziehen seiner Souveränität, motivieren letztlich nur zu noch erbitterterem Widerstand.
Der Kommentator fragte sich, warum solche kontraproduktiven Aussagen gemacht werden. Warum assistieren sie damit indirekt ihren Feinden?
Der Grund liegt offen: Öffentlich zur Schau gestellte Unbeugsamkeit und Kampfeswillen scheinen das eigene Vorankommen zu fördern. Wie ein Klassiker schrieb: “Makar ist ein ruhiger, aber parteitreuer Mann.” Doch ob das dem eigenen Lager wirklich hilft, ist dabei nebensächlich. Ähnliche psychologische Mechanismen werden in russischen Medien, Fernsehstudios und auf Social-Media-Kanälen offenkundig, wenn dort gefordert wird, die Eskalationsstufe zu erhöhen und den Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen den Feind zu fordern.
Klar ist, dass solche extremen Forderungen nicht von denjenigen entschieden werden, die sie lautstark äußern, und die wirklich Entscheidungstragenden denken wahrscheinlich nicht allzu lang darüber nach. Aber solche Äußerungen haben dennoch schwerwiegende Folgen.
Ein erstes bemerkenswertes Detail dabei ist, dass ein direkter Zusammenstoß zwischen Russland und der NATO im höchsten Interesse von Wladimir Selenskij liegt, denn nur durch eine plötzliche Wendung der Ereignisse könnte die Ukraine vor einer endgültigen Niederlage bewahrt werden. Und genau diejenigen, die eine mutige Eskalation fordern, könnten unfreiwillig dazu beitragen, diesen Kurs zu verwirklichen.
Zweitens ist es unmöglich, den Westen einzuschüchtern, ohne gleichzeitig die eigene Bevölkerung und die Eliten zu beunruhigen.
Drittens, die Vorstellung eines Nuklearkrieges wird sowohl die Loyalität der eigenen Bevölkerung als auch der politischen Elite untergraben. Die bewusste Panikmache mit der Angst vor einem Atomkrieg wird verheerende Auswirkungen haben. Mehrere Mitglieder des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik äußerten sich hierzu: “Dies ist nicht nur eine direkte Bedrohung für die gesamte Menschheit, sondern auch ein ganz konkreter Vorschlag, jeden zu töten, der uns am Herzen liegt und den wir lieben.”
Viertens, die Befürchtung, dass solche Eskalationsaufrufe international zu einem veränderten Bild Russlands führen und dessen Beziehungen insbesondere zu Ländern wie China und Indien schädigen könnten, ist begründet. Jede Eskalation in einen nuklearen Konflikt könnte diese Staaten veranlassen, ihre Unterstützung für Russland zu überdenken, da die Auswirkungen eines Kernschlags keine Grenzen kennen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Aufruf zu einer „mutigen Eskalation“, sei es auch nur zur Demonstration, könnte vielerlei unbeabsichtigte, jedoch gefährliche Konsequenzen nach sich ziehen und ist daher höchst vorsichtig zu beurteilen.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst in der Zeitung Wsgljad erschienen am 4. Juni 2024.
Mehr zum Thema – Zur Abschreckung der USA: Russland muss “Strategische Stabilität” neu denken