Von Igor Istomin
Heutzutage erscheint die Gefahr eines großen Krieges in Europa so real wie schon lange nicht mehr seit dem mittleren 20. Jahrhundert. Westliche Analysten erörtern verschiedene mögliche Konfliktszenarien und selbst führende Politiker betrachten offen die Möglichkeit und diskutieren Zeitrahmen eines solchen Ereignisses.
Der russische Präsident Wladimir Putin äußerte kürzlich, dass die Handlungen der westlichen Regierungen die Welt an einen “Punkt ohne Wiederkehr” geführt haben. Trotzdem glaubt man in Russland mehrheitlich, dass den USA und ihren Verbündeten die verheerenden Risiken eines direkten militärischen Aufeinandertreffens mit Russland bewusst sind und sie deshalb, getrieben von ihrem Selbsterhaltungstrieb, versuchen werden, diesem zu entgehen.
Diese Annahme baut darauf auf, dass der Westen trotz seiner Aggression und Arroganz in der Politik einer rationalen Abwägung der Vor- und Nachteile folgt, die auf dem bestehenden Kräfteverhältnis basiert. Die geschichtliche Erfahrung deutet allerdings darauf hin, dass die USA und ihre Verbündeten oft Probleme haben, einen ausgewogenen und bedachten politischen Kurs beizubehalten.
In den 2000er und 2010er Jahren verwickelten sie sich wiederholt in militärische Unternehmungen, aus denen sie später mühsam auszusteigen suchten. Die Beispiele der Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen sprechen für sich. Trotz geringerer Risiken im Vergleich zu einem möglichen Krieg mit Russland, stand immer weniger auf dem Spiel.
Präsident Joe Biden gestand neulich: “Sollten wir jemals zulassen, dass die Ukraine eine Niederlage erleidet, merken Sie sich meine Worte: Sie werden sehen, wie Polen weggeht, und Sie werden sehen, wie all die Länder entlang der faktischen Grenze Russlands selbstständig verhandeln werden.” Hier zeigt sich erneut die alte “Domino-Theorie” in den Köpfen westlicher Strategen.
Das gespaltene Bewusstsein des Westens
Die wachsende Bitterkeit der westlichen Länder gegenüber Russland passt zur Idee bewaffneter Konflikte, begründet durch präventive Kriegsführung. Anstatt zwischenstaatliche Konflikte als aggressiven Opportunismus zu sehen, betrachtet dieses Modell die Eskalation als Ergebnis von Zukunftsängsten und das Prinzip, einem bevorstehenden Schwächerwerden zuvorzukommen, führte in der Geschichte häufig zu großen Kriegen.
Heute lassen sich ähnliche Muster in der Politik erkennen, wobei der Westen erhebliche Mittel in die Konfrontation mit Russland investiert. Die Realisierung, dass Russland nicht bereit ist zu verlieren und stattdessen Zielen näher kommt, bringt die USA und ihre Verbündeten an den Punkt der Frustration, die sie nicht zu einer Versöhnung, sondern zur Suche nach immer härteren Maßnahmen treibt.
Die Nichteinhaltung der Pläne, Russlands Wirtschaft durch Sanktionen zu zugrunde zu richten und über Kiew eine strategische Niederlage zu erzwingen, treibt den Westen immer näher an den Rand einer direkten militärischen Konfrontation, währenddessen schwindet die Sensibilität für die möglichen Folgen eines solchen Szenarios.
Die Diskussionen zur Stationierung westlicher Truppen in der Ukraine betonen diese zunehmende Bereitschaft zu wagen, mehr und mehr Einsätze zu setzen. Die widersprüchliche Sichtweise auf Russland im Westen – einmal als schwacher Akteur, einmal als bedeutende Bedrohung – bereitet paradoxerweise den Boden für präventives Agieren, um unvorteilhafte Entwicklungen in der Konfrontation zu vermeiden.
Quo vadis?
Bisher sprechen westliche Politiker zwar nicht offen von einem bewaffneten Überfall auf Russland, doch hinter den Kulissen erhöhen sie die Einsätze in der Hoffnung, dass Moskau nicht darauf reagieren wird. Der klassische Glaube an die nukleare Abschreckung führt dazu, dass sie den Rahmen des Zulässigen immer weiter ausdehnen und sich tief in das Spiel verwickeln, eine Entwicklung, die durch die kollektive Natur der westlichen Allianzen durchaus gefährlich eskalieren könnte.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 19. Juni beim Internationalen Diskussionsclub Waldai.
Igor Istomin ist Leiter des Lehrstuhls für angewandte Analyse internationaler Probleme am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen.
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