Im Zuge eines Interviews mit RIA Nowosti äußerte Alexander Bastrykin, der Vorsitzende des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, dass die gesammelten Informationen über die Gräueltaten der Nationalsozialisten während des Großen Vaterländischen Krieges als Basis für Entschädigungszahlungen an die Angehörigen der Opfer dienen könnten. Bastrykin kritisierte die Ablehnung Deutschlands, Reparationen an die Überlebenden der Leningrader Blockade zu leisten, und bezeichnete dies als eine “Politik der Doppelmoral”.
Laut Bastrykin erkenne Deutschland zwar die historische Verantwortung für die Verbrechen der Wehrmacht in Leningrad an, verweigere jedoch die Ausdehnung der Entschädigungszahlungen, welche jüdischen Überlebenden gewährt werden, auf alle anderen Überlebenden der Blockade (“Blokadniki”).
“Deutschland hat sich bereits darauf eingelassen, bedeutende Summen für den Völkermord an mehreren Stämmen in Namibia zu zahlen. Das ist eine Doppelmoral”, betonte Bastrykin.
Die Bundesregierung begründet ihre Weigerung damit, dass die Blockade von Leningrad eine “allgemeine Kriegshandlung” gewesen sei.
Im Oktober 2022 qualifizierte das St. Petersburger Stadtgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Leningrader Blockade als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Völkermord an der sowjetischen Bevölkerung ein. In diesem Prozess wurde bestimmt, dass die Anzahl der Todesopfer durch die Blockade, einschließlich der Spätfolgen wie Hunger und Krankheiten, 1.093.000 beträgt. Landgerichte in 20 russischen Regionen haben die Verbrechen der Wehrmacht in ihren Gebieten ebenfalls als Völkermord eingestuft.
Rund 80 Millionen Sowjetbürger waren insgesamt von der Tragödie der deutschen Besatzung betroffen; etwa 13,7 Millionen starben, wurden verschleppt oder verhungerten. Auf die Nachfrage der Agentur, ob Russland neue Reparationen aufgrund des Genozids an den slawischen Völkern fordern würde, antwortete Bastrykin, dass das Ermittlungskomitee zahlreiche bislang unbekannte Fakten über die Nazi-Verbrechen herausgefunden hat, die bisher bei der Bestimmung von Zahlungen noch nicht berücksichtigt worden waren. Diese Informationen könnten nicht nur zur Rechtfertigung zusätzlicher Zahlungen an die Opferangehörigen, sondern auch zur Kompensation des verursachten Schadens führen.
In einem weiteren Teil des Interviews beschrieb Bastrykin mehrere von deutschen Truppen im heutigen Russland begangene Verbrechen, darunter Massenmorde an über 500 Patientinnen des psychiatrischen Krankenhauses in Lotoschinki, die Misshandlungen und Ermordungen von Bewohnern des Dorfes Chatsun sowie die unmenschlichen Bedingungen im Kriegsgefangenenlager Dulag-142.
“Was wir jetzt erfahren, ist einfach ungeheuerlich”, so der Chefermittler. “Es ist unglaublich, dass jemand auf unbewaffnete Menschen, besonders auf Kinder, schießen kann. Das ist einfach schrecklich.”
Die Haltung Deutschlands zur Frage des Genozids am sowjetischen Volk verursachte in den letzten Monaten diplomatische Spannungen. Die Aufteilung der Blockadeopfer nach ethnischer Herkunft wurde vor allem von Moskau stark kritisiert. Russlands Außenminister Sergei Lawrow äußerte, dass Berlins Haltung “nach Überheblichkeit riecht”.
Bastrykin verknüpfte die Position der Bundesregierung zudem mit einer westlichen Tendenz, die Geschichte umzuschreiben, und erwähnte, dass der Plan Hitlers zur Massenvernichtung der sowjetischen Zivilbevölkerung im Westen oft übersehen wird.
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