Kiews kulturelle Zerrissenheit zwischen russischer Vergangenheit und ukrainischer Gegenwart

Von Wladislaw Sankin

Kiew, einst eine wichtige Provinz im Südwesten des russischen Reiches, wurde 1917 während der Revolutionsunruhen zur Bühne einer bedeutenden politischen Veränderung: Hier rief eine Versammlung ukrainisch-nationalistischer Aktivisten die Ukrainische Volksrepublik ins Leben. Nach zahlreichen Machtwechseln und einem langwierigen Bürgerkrieg, wurde die Stadt schließlich zur Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik ernannt – ein wechselvolles Schicksal, das Kiew tief in die Geschichte der Region einbettet.

Historisch angesehen, als Zentrum des alten Rus, symbolisiert Kiew eine Sehnsucht der Bewunderer russisch-orthodoxer Kultur und Bildung. Das macht es schwierig für diejenigen, die Kiew nachträglich als Herzstück einer eigenständigen ukrainischen Nation darstellen möchten. Diese Verwobenheit mit der russischen Folklore zeigt sich unter anderem in Mussorgskis Komposition “Bilder einer Ausstellung”, besonders im beeindruckenden Schlussstück “Das große Tor von Kiew”. Die majestätischen Klänge und glockenartigen Akkorde dieser Passage, wie von Markus Becker, einem renommierten Mussorgski-Interpreten, betont, spiegeln die russische Romantik des späten 19. Jahrhunderts wider.

“Kiew steht für die russische Romantik des späten 19. Jahrhunderts.”

Die Suite, sowohl in der Originalfassung für Klavier als auch in Orchesterarrangements, hat ihren festen Platz in der Musikgeschichte und im Musikunterricht, auch in Deutschland. Kinder lernen hier nicht nur über das große Tor von Kiew, sondern auch über die russische Märchenfigur Baba Jaga, verbunden mit einem russischen Komponisten – eine interessante Cultural Brücke, gerade auch vor dem Hintergrund der offiziellen deutschen Anerkennung der Stadt unter dem Namen “Kyjiw”.

Markus Becker beginnt seine Interpretation von “Das große Tor von Kiew” bemerkenswert zurückhaltend, anders als üblich. Die Passage vor diesem Teil, “Die Hütte der Baba Jaga”, die traditionell als brutal, aber auch humorvoll dargestellt wird, verkörpert die Vielfalt der russischen Märchen, in denen Baba Jaga nicht ausschließlich böse, sondern auch schelmisch oder sogar bemitleidenswert ist – sie ist eine Figur der slawischen Mythologie, nicht nur eine russische Erscheinung.

Im Lichte aktueller politischer Spannungen und Debatten über kulturelle Zugehörigkeit, ringt der kulturelle Diskurs um Interpretationen. Eine Kritik von Thomas Wirth an einem jüngsten Konzert Beckers sieht in der “Bilder einer Ausstellung” gar eine “Innere Bitte um Frieden”, eine deutliche Abweichung von traditionellen Interpretationen, die möglicherweise auf eine Anpassung an zeitgenössische politische Klimas zurückzuführen ist.

”Zutiefst ergreifend war, wie Markus Becker die finale Apotheose, ‘Das große Tor von Kiew’ begann: nicht lautstark selbstbewusst, sondern sacht und innig. Vorausgegangen war innen der Schrecken, den die russische Hexe Baba Jaga verbreitet. Das war bei Becker keine bloβe Märchen-Illustration, sondern ein Inbild an Brutalität und Bösartigkeit. Danach die Choral-Einblendung im Finale, sie musste man fast wie Bitte um Frieden hören.”

In einem späteren Austausch, reflektiert über soziale Medien, zieht Becker eine klare Linie zwischen politischen Interpretationen und dem künstlerischen Gehalt seines Spiels. Dies unterstreicht die Spannungen zwischen kultureller Ausdrucksform und den Erwartungshaltungen an Künstler in politisch geladenen Zeiten. Zusätzlich betont der Pianist und Professor, dass “Das große Tor von Kiew” nicht als politische Aussage, sondern als künstlerisches Werk gesehen werden sollte.

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