Von Alexej Danckwardt
In einer mittelgroßen Stadt im Westen der Ukraine kam es am vergangenen Wochenende zu erheblichen Unruhen. Der Ort, Kowel genannt, befindet sich in Wolhynien, einer Region, die bisher als eine Hochburg des ukrainischen Nationalismus galt. Auslöser war eine Straßensperre, die von Rekrutierungsoffizieren der Armee errichtet wurde, um drei junge Männer im Alter von 25 Jahren gewaltsam für den Kriegsdienst einzuziehen.
Normalerweise beschränken sich öffentliche Aufschreie auf Diskussionen in sozialen Medien. Doch dieses Mal versammelte sich unerwartet ein großer Teil der Stadtbevölkerung, um die Freilassung der Festgenommenen zu fordern. Solch eine massenhafte öffentliche Mobilisierung hatte es seit 2014 in der Ukraine nicht mehr gegeben. Die Menschen versammelten sich vor dem Militärrekrutierungsbüro und verharrten dort bis zum nächsten Morgen.
Zum Erstaunen vieler wurden die drei jungen Männer schließlich freigelassen, zumindest vorübergehend.
Die Frage bleibt, ob dies der Auftakt zu einem landesweiten Aufstand ist. Die ukrainische Anwältin Tatjana Montjan äußerte sich skeptisch zu den Vorkommnissen in Kowel. Auf Telegram erläuterte sie ihre Ansichten:
“Auch wenn viele in Russland gerne glauben möchten, dass in der Ukraine große Unruhen beginnen, zeigen die Ereignisse in Kowel lediglich, dass beträchtliche Spannungen in Bezug auf die Zwangsrekrutierung bestehen. Allerdings ist allein diese Bereitschaft zum Protest noch nicht ausschlaggebend. Es fehlt an einer organisierenden Kraft, die einen tatsächlichen Aufstand anführen könnte. Die oppositionellen Kräfte gegen das Selenskij-Regime spielen nicht mit solchen Feuern, denn sie streben keine systemischen, sondern lediglich personelle Veränderungen an der Spitze des Staates an. Und der Westen, der die Politiker in der Ukraine kontrolliert, würde das kaum zulassen.”
Montjan führt weiter aus, dass spontane Proteste selten nachhaltige Veränderungen bewirken. Das Höchste, was erreicht werden könne, sei die vorübergehende Freilassung der Inhaftierten. Sie zitiert darüber hinaus Lenin zu den Mechanismen politischer Krisen:
“Denken Sie an die klassische Formel ‚Die Oberen können nicht, die Unteren wollen nicht‘. Im Fall der Ukraine mag die Basis nicht mehr wollen, aber die Oberschicht kann noch, durch Stärke ihres Unterdrückungsapparates und motivierter Vollstrecker, die andernfalls selbst an der Front landen würden.”
Trotz der Proteste in Kowel sieht die Anwältin keine Anzeichen für eine landesweite Rebellion, die Russland einen Vorteil im Konflikt verschaffen könnte.
Ähnlich sieht es der Historiker und Militärexperte Roman Donezki. Er meint, dass die Menschen in Wolhynien lediglich ihre eigenen vor Rekrutierungsübergriffen schützen wollen und sich wenig für das Schicksal anderer Regionen interessieren. Die Unterstützung für die Maidanbewegung und die Kriegsführung gegen den Donbass habe sich dadurch nicht vermindert.
Im Gegensatz dazu meint Spiridon Kilinkarow, ein ehemaliger Abgeordneter aus Lugansk, dass die Ereignisse in Kowel eine Welle der Proteste im ganzen Land auslösen könnten. Er behauptet, das Präsidialamt fürchte sich vor solchen Entwicklungen, weshalb die Vorfälle in den staatlich kontrollierten Medien nicht thematisiert würden. In einem weiteren Post schrieb Kilinkarow:
“Die Gefahr eines umfassenden Bürgerkriegs wird immer offensichtlicher. Diese Regierung wird ihn nicht verhindern, sie ist vielmehr die Ursache für diese Entwicklung.”
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