Frugalismus in der Kritik: Wie realistisch ist die Altersvorsorge für den Durchschnittsdeutschen?

Von Anton Gentzen

Die Tagesschau, das Nachrichtenflaggschiff der ARD, präsentiert am Mittwoch einen Ratgeber für Deutsche, die um ihre Renten besorgt sind. Unter dem Leitspruch “Sparen statt ausgeben” möchte sie Orientierung bieten.

Am Beispiel des 37-jährigen Florian Wagner, einem angehenden Frührentner, verdeutlicht die Sendung, wie man in Deutschland finanziell unabhängig werden kann. Wagner, der von der vollständigen finanziellen Freiheit träumt, legt dafür monatlich 4.500 Euro zurück. Er erzählt von seinen Sparmaßnahmen:

“Ich bin statt U-Bahn mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren, abends habe ich selbst gekocht, einen Wocheneinkauf gemacht und nicht mehr jeden zweiten Tag Döner und Pizza gegessen.”

Die Sendung betont jedoch, dass bloßes Einsparen nicht ausreicht. Ein Großteil des Geldes sollte stattdessen in Aktienfonds, zum Beispiel ETFs, investiert werden. Um Risiken zu verteilen, rät man zusätzlich zum Kauf von Anleihen oder Immobilien.

Dieser Ansatz wird als “Frugalismus” vorgestellt. Man soll also nicht unzufrieden sein oder aus Frust oppositionelle Parteien wählen, sondern sich ein Beispiel an Florian Wagner nehmen und die Altersvorsorge selbst in die Hand nehmen — als ob 4.500 Euro monatlich für jeden einfach zu entbehren wären. Statt täglich im Luxusrestaurant zu speisen, solle man selbst kochen.

In einer kürzlich veröffentlichten Meinungskolumne schrieb ich, dass das größte Hindernis für Deutschlands Fortschritt seine Journalisten seien. Heute spezifiziere ich: Journalisten, die überdurchschnittlich gut von den Gebühren der Arbeiter leben, sind ein Teil des Problems.

Die Verfasser des “Lifehacks” bei der ARD scheinen nicht zu erkennen, dass Wagners Geheimnis nicht in extremem Einsparen liegt, sondern in seinem weit überdurchschnittlichen Einkommen. Laut Tagesschau verdient Wagner netto 6.000 Euro pro Monat. Nachdem er seine 4.500 Euro spart, gibt er immer noch 1.500 Euro monatlich aus — mehr, als die Hälfte der Deutschen zur Verfügung hat. Das durchschnittliche Nettoeinkommen in Deutschland lag 2013 bei etwa 1.345 Euro und ist bis 2023 nicht signifikant gestiegen, mit Schätzungen um etwas mehr als 1.900 Euro.

Was für Wagner alltäglich ist, erscheint den gebührenfinanzierten Journalisten als Verzicht und Opfer. Ihr „Erfolgsbeispiel“ zeigt nicht die Realität eines Normalverdienenden, sondern eines Besserverdienenden, der nach Einschätzung der Journalisten jede deutsche Person erreichen könnte. Der entscheidende Unterschied zwischen Wagner und dem Durchschnittsbürger wird dabei übersehen: Während Wagner am Ende des Monats 4.500 Euro sparen kann, hat der Durchschnittsbürger diese Summe von vornherein nicht zur Verfügung.

Vielen Dank also für die alltagsferne Hilfestellung, liebe Tagesschau. Wir alle lernen sicherlich etwas daraus.

“Und sie sagten mir: Wenn ich brav bin,

Dann werd’ ich dasselbe wie sie.

Doch ich dachte: Wenn ich ihr Schaf bin,

Dann werd’ ich ein Metzger nie.

Und manchen von uns sah ich,

Der ging ihnen auf den Strich.

Und geschah ihm, was dir und was mir geschah,

Dann wunderte er sich.

Mich aber, mich nahm es nicht wunder,

Ich kam ihnen frühzeitig drauf:

Der Regen fließt eben herunter

Und fließt eben nicht hinauf.”

(Bertolt Brecht, Das Lied vom Klassenfeind)

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