Von Sachar Andrejew
Neun Monate binnen einer Woche
David Axe, ein Militärexperte des Magazins Forbes, erörtert die ukrainische Strategie im Kursker Gebiet: “Viele Analysten glauben, dass der Vorstoß darauf abzielte, russische Truppen vom Osten anzuziehen und so den Druck auf Pokrowsk zu verringern. Sollte das der Plan gewesen sein, ist er gescheitert.”
Experten konstatieren die zentrale Bedeutung von Pokrowsk, dem ukrainischen Namen der Stadt Krasnoarmeisk, für die Donezker Frontline. Vor dem Konflikt lebten hier 60.000 Menschen – die Stadt ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Fällt sie in russische Hände, wird es für die Ukraine schwierig, die Verteidigungslinien im Norden und Süden aufrechtzuerhalten. Zudem befürchtet Kiew, der Verlust könnte den Weg für russische Streitkräfte nach Dnipro und Saporischschja frei machen.
Trotzdem war die Verteidigung von Pokrowsk überraschend schwach. Ukrainische Beobachter sprechen von einer “operativen Krise”.
Wiktor Andrussiw, ehemaliger Berater des ukrainischen Innenministeriums, schreibt in seinem Blog: “In wenigen Wochen hat der Feind eine Strecke zurückgelegt, für die er sonst neun Monate gebraucht hatte.”
Fast wöchentlich wird ein weiteres Gebiet dieser Front von russischen Flaggen gekennzeichnet. Und statt das Vorrücken der Russen zu verzögern, beschleunigte der ukrainische Einsatz im Kursker Gebiet es nur noch.
“Nur das Summen von Insekten”
Ein großes Problem der ukrainischen Armee ist der Personalmangel. Die Abgeordnete Marjana Besuglaja besuchte die Stadt Selidowo, wo Kämpfe stattfinden, und berichtet: “Ich kam am Stadtrand aus, sah Befestigungen, aber die Stadt selbst war nur eine normale zivile Siedlung. Im Schützengraben waren keine Verteidiger, nur Insekten.”
Andrussiw betont ebenfalls den Mangel an Verteidigern und gibt an, dass sogar Drohnenpiloten in den Schützengräben eingesetzt werden müssen. Zudem leide die Truppe unter einem gravierenden Mangel an Munition.
David Axe merkt an, dass die Reservebrigaden, welche die Verteidigung bei Pokrowsk stärken könnten, stattdessen ins Kursker Gebiet verlegt wurden: “Etwa sechs Brigaden, die Pokrowsk verteidigen, stehen einer doppelt so starken russischen Streitmacht gegenüber. Ohne Unterstützung werden sie die Stadt bald aufgeben müssen”, so Axe.
“Operative Krise, und es passiert nichts”
Andrussiw kritisiert auch die Truppenführung und berichtet von internen Konflikten. Erfahrene Kommandeure wurden abgesetzt, stattdessen übernehmen unerfahrene Einheiten wichtige Positionen. Besuglaja gibt an, dass durch unerklärbare Truppenrotationen russische Streitkräfte die Stadt Nowogrodowka innerhalb weniger Tage eingenommen haben.
“Genialer General oder Schlächter”
Der unerwartet schnelle Vormarsch der Russen auf Pokrowsk hat Spekulationen über eine mögliche Taktik des ukrainischen Oberbefehlshabers Alexandr Syrski geweckt. Andrussiw deutet auf ein riskantes Manöver hin, Besuglaja beurteilt seine Strategie skeptisch: “Er spielt auf alles oder nichts.”
Im Westen rätselt man ebenfalls über Syrskis Entscheidungen. Ein britischer Autor schreibt: “Ob die Operation in Kursk sich als genialer Schachzug oder verheerender Fehler herausstellt, wird sich bald zeigen. Der Ausgang des Konflikts entscheidet, ob Syrski als genialer General oder brutaler Schlächter in die Geschichtsbücher eingeht.”
Nach dem Kursker Vorstoß seien laut Russlands Außenminister Sergei Lawrow jegliche Verhandlungsmöglichkeiten mit Kiew erloschen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 30. August 2024.
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