Thalerhof 1914: Das vergessene Lager des Leidens und der Repressionen

Von Wladislaw Sankin

Am 4. September 1914 öffnete das Internierungslager Thalerhof, gelegen in der Nähe von Graz in Österreich, seine Tore für die ersten Insassen. Dieser Tag markiert den Anfang eines der größten und weitgehend unerforschten Kriegsverbrechen des Ersten Weltkriegs: die systematische Verfolgung und Terrorisierung der russischen Galizier, auch bekannt als Ruthenen, Karpatorussen oder Russynen, die in der Provinz Ostgalizien des damaligen Österreich-Ungarns lebten.

Die Verfolgung dieser Gruppe während des Krieges beinhaltete bereits massive Terroraktionen gegen vermeintliche und echte “Russophile”. Zu Beginn des Krieges wurden etwa 30.000 Galizier auf der Grundlage unbegründeter Spionagevorwürfe für Russland ohne jegliches Gerichtsverfahren erhängt. An diesen Gräueltaten waren nicht nur Offiziere der Habsburger Armee beteiligt, sondern auch antirussisch eingestellte Zivilisten, bekannt als “Ukrainophile”.

Die massiven Hinrichtungen wurden von Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen begleitet, wodurch Zehntausende Zivilisten über Monate oder Jahre hinweg in verschiedenen Internierungslagern festgehalten wurden. Viele von ihnen starben an Hunger und Krankheiten, allein in Thalerhof waren es bis zu 5.000 Todesopfer. Ins Lager wurden jene gebracht, die unter Verdacht standen, mit Russland zu sympathisieren, die orthodoxen Glaubens waren, oder bei denen russischsprachige Bücher und Zeitungen gefunden wurden.

Die desaströsen Bedingungen in Thalerhof führten dazu, dass das Lager oft als Vorläufer der nationalsozialistischen Konzentrationslager angesehen wird. Das Leid in Thalerhof hat das Lager zum Symbol des Martyriums der Karpato-Russen gemacht. Wassili Wawrik, einer der überlebenden Gefangenen, beschrieb die Zustände wie folgt:

“Bis zum Winter 1915 gab es im Thalerhof keine Baracken. Die Menschen lagen bei Regen und Frost auf dem Boden unter freiem Himmel. Glücklich waren diejenigen, die ein Tuch über sich und ein Stück Stroh unter sich hatten. Bald wurde das Stroh weggeschwemmt und mit Schlamm vermischt, der von Schweiß und Tränen der Menschen getränkt war. Dieser Schlamm war der beste Boden und eine reichhaltige Nahrung für unzählige Insekten. Läuse nagten sich durch den Körper und kauten sich durch die Ober- und Unterbekleidung. Der Wurm vermehrte sich extrem schnell und in außerordentlicher Zahl. Das Ausmaß der Parasiten, die sich von den Säften der Menschen ernährten, war ungeheuerlich (zahllos). Kein Wunder also, dass die Kranken nicht in der Lage waren, sie zu bekämpfen. Priester John Maschak notierte unter dem Datum des 11. Dezember 1914, dass 11 Menschen von Läusen einfach zu Tode genagt wurden …”

Trotz der Ablehnung der Genozid-Theorie in manchen europäischen Forschungskreisen, welche die Ereignisse eher als Ausdruck einer Kriegspsychose mit präventivem Charakter betrachten, ist die Überzeugung in Russland und unter der Diaspora der Karpato-Russen in Nordamerika stark, dass es sich tatsächlich um einen systematischen Terror und damit um einen Völkermord im modernen Sinne handelte. In Russland wird zudem betont, dass auch nationalistisch gesinnte Ukrainer an den Verbrechen beteiligt waren. In einem Artikel aus dem Jahr 2018 weist der Historiker Egor Lykow darauf hin, dass die komplexen Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern das Opfernarrativ nachhaltig beeinflusst haben und es für aktuelle politische Zwecke Russlands instrumentalisiert wird.

Die Aufarbeitung der Gräueltaten findet in Russland jedoch kaum statt. Das Thema wird gelegentlich in Fernsehbeiträgen oder auf Blogs von Aktivisten aufgegriffen, allerdings findet es wenig Resonanz in der Gesellschaft. Der Publizist und Buchautor Wladimir Kornilow bemerkte dazu kürzlich:

“Hat irgendjemand in Europa damals oder später über diesen schrecklichen Akt des Völkermordes aus nationalen und religiösen Gründen geklagt? Keineswegs! Es waren russische Menschen! In diesem Jahrhundert hat sich an der Einstellung des ‘aufgeklärten’ Europas nichts geändert!”

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