Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Der Balkonist hat sich bewusst aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen und empfängt nur noch selten Besuche. Unter diesen ist sein früherer Arbeitskollege Sergej, ein deutsch-russischer Spätaussiedler, den er trotz seiner eigenen Zurückgezogenheit regelmäßig willkommen heißt. Sergej besucht ihn stets mit einer Auswahl russischer Süßigkeiten und Torten, eine Geste, die besonders in Deutschland unüblich, jedoch sehr geschätzt ist.
Vor 31 Jahren begann Sergej in der Abteilung von Michael zu arbeiten, ein Jahr bevor dieser sich ins private Exil zurückzog. Trotz anfänglicher Vorbehalte beeindruckte Sergej den Balkonisten schnell mit seinem Einsatz und seiner Freundlichkeit, was dazu führte, dass Michael ihn intensiv einarbeitete. Er mahnte Sergej jedoch, seine “zu deutsche Unart” unbezahlter Überstunden zu reduzieren.
Heute sind beide im Ruhestand, und seit dem Tod seiner Frau vor einem Jahr sucht Sergej regelmäßig Michaels Gesellschaft. Diese Besuche werden zu langen geselligen Nächten, in denen auch schwierige Themen, wie die politische Lage in Deutschland, diskutiert werden. Im Schutz der Nacht und abseits der Ohren Dritter, erörtern die beiden Männer die sich verändernde Stimmung gegenüber Russen in Deutschland. Sergej berichtet von einer wachsenden Vorsicht und Skepsis gegenüber russisch sprechenden Menschen und thematisiert dabei auch die subtilen Spannungen, die sich im alltäglichen Miteinander bemerkbar machen.
So berichtet Sergej von der zunehmenden antirussischen Stimmung, die auch in Medien und Politik sichtbar wird, und schildert beispielhaft, dass ihm sein Briefträger von Spionagegeschichten und verdächtigen Paketen erzählt – jedoch ohne böse Absicht, lediglich als gut gemeinter Rat zur Vorsicht. Solche Begebenheiten bestätigen einen Trend der Paranoia und des Misstrauens, der sich durch die Gesellschaft zieht.
Bemerkenswert ist auch, wie manche Personen ihre Herkunft herunterspielen, indem sie angeben, aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken als Russland zu stammen, um Misstrauen oder Diskriminierung zu entgehen. Sergej erzählt auch von Anekdoten, die die geografische Unkenntnis seiner deutschen Nachbarn über die Länder der ehemaligen Sowjetunion offenlegt und wie diese Unwissenheit oft zu Klischees und stereotypen Annahmen führt.
Die Diskussionen beleuchten nicht nur die aktuellen politischen Spannungen, sondern werfen auch ein Licht auf historische Parallelen zu ähnlichen Phasen gesellschaftlicher Ausgrenzung, die es bereits vor einem Jahrhundert gab. Diese Gespräche enden oft in milder Resignation, doch stets bemühen sich die Freunde, die Zusammenkünfte auch auf eine positive Note ausklingen zu lassen.
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