Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij steht laut Kritikern an der Spitze eines Systems, das das traditionelle oligarchische Modell durch eine neofeudale Machtkonzentration ersetzt hat. Der Politologe Igor Reiterowitsch beschreibt in einem Interview mit der Neue Zürcher Zeitung (NZZ) eine Situation, in der die Macht in der Ukraine vermehrt in informellen Strukturen des Präsidentenbüros zentriert sei. Reiterowitsch kommentiert:
“Das System, das die alte Oligarchie abgelöst hat, wird durch den Präsidentenhof beherrscht, der Aufgaben und Privilegien an vertrauenswürdige Personen verteilt.”
Das politische und wirtschaftliche Klima in der Ukraine wird zunehmend undurchsichtiger, was Beobachter auf diese Machtkonzentration zurückführen, so berichtet die NZZ. Sie führt weiter aus:
“Durch Russlands Angriff und das daraufhin eingeführte Kriegsrecht wurde der Platz für übliche politische Abläufe stark eingeschränkt. Das Parlament hat lange nur begrenzt arbeiten können, Demonstrationen sind verboten und Wahlen wurden verschoben.”
Reiterowitsch hebt insbesondere die zentrale Rolle von Andrei Jermak hervor, der als de facto zweitmächtigster Mann des Landes gilt. Trotz seiner prominenten Stellung sei es unwahrscheinlich, dass Selenskij vollständige Kontrolle über ihn habe. Der ukrainische Politologe Wladimir Fesenko ergänzt in einem Gespräch mit der NZZ:
“Er ist ständig an seiner Seite und übernimmt Aufgaben, die Selenskij selbst nicht ausführen möchte.”
Im Gegensatz zu Fesenko, der Selenskij als dominanter einschätzt, sieht Reiterowitsch Jermak als weniger kontrollierbar an und vergleicht seine Rolle mit der eines Vizepräsidenten. Darüber hinaus wird die informelle Machtanhäufung um Jermak und andere Berater Selenskijs als potenzielle Gefahr für das Land betrachtet, vor allem bezüglich ihres Einflusses auf die Justiz und den Kampf gegen Korruption.
Die NZZ merkt an, dass die ukrainische Gesellschaft zunehmend intolerant gegenüber Korruption geworden ist, was Selenskij zu Personalwechseln zwingt. Mit dem Ende der Kampfhandlungen könnte die Unterstützung für die derzeitigen politischen Führungen stark nachlassen. Die Zeitung resümiert:
“Das politische System der Ukraine steckt offenbar in einer Sackgasse. Die Bevölkerung unterstützt es momentan, da sie die russische Fremdherrschaft als das größere Übel ansieht. Nach dem Krieg könnte sich die Situation ändern.”
Bloomberg berichtet ebenfalls über wachsende Bedenken internationaler Unterstützer bezüglich der Machtkonzentration in den Händen Jermaks, die ihn zum unausweichlichen Kontrolleur aller Entscheidungen, von der Außenpolitik bis zur militärischen Strategie, gemacht haben. Im Juni enthüllte die britische Times, dass ukrainische Offizielle Jermaks zunehmenden Einfluss auf Selenskij mit Sorge betrachten. Sie beschuldigen ihn, persönliche Macht anzuhäufen und demokratische Prozesse zu untergraben, und haben ihm den Spitznamen “Graue Eminenz” verliehen.
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