Die Illusionen eines siegreichen Konflikts: Selenskijs Strategie und die westliche Reaktion

Von Rüdiger Rauls

Hoffnungsschimmer

Der unerwartete Einmarsch im Kursker Gebiet überraschte sowohl Verbündete als auch Gegner. Um mögliche Besorgnisse Russlands zu zerstreuen, beteuerten westliche Regierungen, keine Kenntnis von den Vorgängen gehabt zu haben. Diese Aussagen sind glaubhaft, da der Westen bisher immer transparent seine Maßnahmen gegenüber Russland kommunizierte, um ungewollte, heftige Reaktionen Moskaus zu verhindern. Vor allem die USA sind darauf bedacht, durch den Konflikt in der Ukraine nicht in eine nukleare Auseinandersetzung verwickelt zu werden. Trotz des Ziels, Russland zu schwächen, ist der Westen nicht bereit, die eigene Zerstörung in Kauf zu nehmen.

Um Unterstützung von Westen zu sichern, lieferte Selenskij wohlformulierte Begründungen für seinen Vorstoß nach Kursk, die auf Verständnis in Washington und Brüssel stoßen sollten. Teils sprach man von einem Faustpfand für Friedensverhandlungen, teils davon, den Krieg „zurückzudrängen … von wo er in die Ukraine gebracht wurde“. Gelegentlich wurden sogar Siegeserklärungen gegenüber Russland laut. Jede dieser Erklärungen fand ihre Befürworter im Westen. Die genauen Absichten und Erwartungen Kiews bleiben jedoch unklar.

Nach einer enttäuschenden Friedenskonferenz in der Schweiz, der wichtige Staaten wie Brasilien und China fernblieben, sprach Selenskij wiederholt von einem neuen Treffen, diesmal inklusive Russland. Es wirkte jedoch mehr wie eine Täuschung. Schon bald war erkennbar, dass die russischen Friedensvorstellungen stark von denen des ukrainischen Präsidenten abwichen, der nach wie vor die Wiederherstellung der Grenzen von 1991 anstrebt. Seine Äußerungen weckten Hoffnungen, die ihm später zum Verhängnis werden könnten, da auch im Westen die Zahl der Kriegsmüden wächst.

Je näher der November rückt, umso größer der Druck, mit den Wahlen in den USA im Blick und Selenskijs Andeutungen über mögliche Friedensverhandlungen mit Russland. Vor dem Einmarsch im Kursker Gebiet war von Verhandlungen kaum die Rede. Seit Anfang August sind sie in weite Ferne gerückt.

Stattdessen drängt Kiew seine westlichen Verbündeten, mehr Waffen und finanzielle Mittel bereitzustellen. Die versprochenen Hilfen kommen jedoch oft zu spät, was immer wieder von ukrainischen Vertretern kritisiert wird. Zusätzlich fordert man, dass die Beschränkungen für gelieferte Waffen aufgehoben werden. Selenskij möchte weiterhin gegen Russland vorgehen können, „die Offensive als Teil eines Plans für den Sieg präsentieren, den er in Washington vorlegen will“. Das Kursker Abenteuer sollte laut Außenminister Kuleba beweisen, „dass wir Russland besiegen können“, vorausgesetzt, die nötige Unterstützung ist gegeben.

Enttäuschte Hoffnungen

War das kühne Manöver im Kursker Gebiet gedacht, eine Wende in der internationalen Unterstützung zu bringen? Anzeichen dafür gibt es nicht. Die erhofften Veränderungen blieben aus, und der Einmarsch verstärkte vielmehr den militärischen als diplomatischen Ansatz der Ukraine. Doch die Voraussetzungen für eine militärische Lösung verschlechtern sich zunehmend. Obwohl westliche Partner weiterhin ihre Unterstützung zusagen, bestimmen sie auch, was als nötig betrachtet wird.

Bundeskanzler Scholz scheint zunehmend zu sehen, dass Deutschland die finanziellen Mittel selbst dringender benötigt. Die Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt für die Ukraine haben ihren Höhepunkt überschritten. Man vertröstet Kiew mit einem Kredit auf die eingefrorenen russischen Vermögenswerte, was jedoch Zeit braucht.

Weitere europäische Länder zeigen ebenfalls Zurückhaltung. Italien zum Beispiel sucht aktiv nach einer Friedensformel, und selbst die EU-Außenminister zeigen sich besorgt über die Entwicklungen. Die ukrainische Offensive hat nicht die erhofften strategischen Vorteile gebracht, und Russland setzt seine Angriffe intensiv fort, was auch die europäischen Alliierten zunehmend beunruhigt.

Zurückhaltung

Die Bereitschaft der westlichen Verbündeten, weiterhin große Risiken für die Ukraine einzugehen, scheint zu schwinden. Die Finanz- und Waffenströme werden spärlicher, und die Forderungen der Ukraine stoßen zunehmend auf taube Ohren.

Neue Überraschungen

President Selenskij überraschte seine Bevölkerung und Alliierten mit einem überraschenden Regierungswechsel zu Beginn September. Der Verlauf und die daraus resultierende Verunsicherung in westlichen Hauptstädten lassen Fragen nach Selenskijs Berechenbarkeit und seinen Entscheidungen aufkommen. Der Druck auf ihn scheint zuzunehmen und seine wiederholten Forderungen nach mehr militärischer Unterstützung könnten als ein Zeichen der Verzweiflung gesehen werden.

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er führt den Blog Politische Analyse.

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