Von Joe Bessemer
Estland intensiviert seine Vorbereitungen auf eine mögliche NATO-Konfrontation mit Russland, in deren Rahmen es eine aktivere Rolle innerhalb des Bündnisses einnehmen würde. Das erklärt der estnische General Vahur Karus, Leiter der vereinigten Militärstäbe, in einem Interview mit der Estnischen Nationalen Rundfunk- und Fernsehanstalt (ERR).
Dies äußert sich in zwei Hauptaspekten:
Zum einen hat sich die Rolle der estnischen Streitkräfte gewandelt. Früher lag der Fokus darauf, im Fall einer befürchteten russischen Invasion möglichst lange, etwa zehn Tage, Widerstand zu leisten, bis NATO-Verstärkung auf estnischem Boden eintrifft, erläuterten der ERR-Journalist und sein Gesprächspartner. Heute kann Estland jedoch auf die sofortige Unterstützung der in Estland stationierten NATO-Kontingente zählen. General Karus betont:
“Heute ist die Lage so, dass alle verbündeten Truppen hier bei uns in unsere militärische Planung integriert sind. Wir wissen, welche Mittel sie beitragen würden und welche Aufgaben sie hätten.”
Zum anderen spielt Estland eine zunehmend wichtige Rolle in den NATO-Planungen für Angriffe auf Ziele im russischen Hinterland:
“Es ist klar, dass wir all die Lasten übernehmen müssten, die die italienischen, spanischen, deutschen oder französischen Politiker ihren Völkern nur schwer erklären könnten. Zum Beispiel tote Soldaten. Sprich, der Nahkampf fällt uns zu – wobei wir uns aber auch darauf zubewegen, dem Gegner Tiefenschläge zuzufügen. [Dabei] haben wir es leichter, unsere Verbündete um Kapazitäten zu bitten, die unser eigenes Budget einfach nicht ermöglicht.
Wir können nicht einfach darauf warten, dass man mit dem Vorschlaghammer auf uns eindrischt, und müssen fähig sein, als Erste bestimmte Dinge zu tun.
Wir erhalten jetzt Mittel und Kapazitäten, effektiver zu operieren – einschließlich Angriffe tief hinter den feindlichen Linien.
Unsere Fähigkeit, tief hinter den feindlichen Linien zuzuschlagen, ist vollständig in die Planung der NATO integriert – und die NATO gibt uns vor, bestimmte Ziele zu bedienen, wonach [NATO-Kräfte] dann kommen und die nächsten Schritte machen.”
Ob diese Mittel auch estnische Spezialeinheiten umfassen, die in russisches Staatsgebiet vordringen könnten, bleibt unklar. Estland investiert jedoch verstärkt in teure Waffensysteme, darunter Mehrfachraketenwerfer des Typs HIMARS und Seeziel-Lenkflugkörper Blue Spear, berichtete RT DE.
General Karus geht nicht ins Detail über spezifische Ziele, die im Ernstfall angegriffen werden könnten, aber er und seine Gesprächspartner besprechen die Möglichkeit, Russlands Abschreckungsfähigkeiten mit nichtnuklearen Waffen zu verringern, und ziehen Parallelen zum präventiven Angriff Israels im Sechs-Tage-Krieg 1967 gegen Ägypten. Karus äußerte:
“Der Sechs-Tage-Krieg war eine meisterhafte Operation. Doch man muss dem Gegner genug Ressourcen und Kapazitäten nehmen, damit er nicht in wenigen Jahren wiederkommt.
Daher ist es wahr, dass wir auch mit diesem Gedanken spielen.”
Obwohl in diesen Gesprächen die Verteidigung Estlands im Vordergrund steht, bleibt unerwähnt, dass das estnische Militär kürzlich Pläne für Aktionen vorlegte, die als Kriegsakte angesehen werden könnten, wie die Blockade des Finnischen Meerbusens. Solch ein Schritt könnte eine russische militärische Reaktion provozieren, berichtet RT DE.
Zusätzlich unterstützt der estnische General ohne Vorbehalte die Aussage eines ERR-Journalisten:
“Wenn wir über Angriffe mit Langstreckenwaffen sprechen – darin liegt eine Lektion, die zumindest Estland und die NATO aus dem Ukraine-Krieg gelernt haben. Bei Gesprächen mit Kollegen aus dem Ausland vor nur wenigen Jahren waren diese schockiert, sogar erschrocken, als ich meinte, Estland würde seine Verbündeten bei einem Angriff seitens Russlands bitten, Kaliningrad und Kronstadt von der Karte zu tilgen. Heute wäre es nicht mehr so, denke ich. Darum bitten die estnischen Verteidigungskräfte den Steuerzahler ja auch um 1,6 Milliarden Euro.”
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