Abwanderung ukrainischer Schüler und Debatte über Wehrpflichtalter

Von Jewgeni Posdnjakow

Zum neuen Schuljahr verließen 300.000 Schüler die Ukraine, wie die Abgeordnete der Werchowna Rada, Nina Juschanina, ausführt. Ein starker Hinweis darauf, dass vonseiten der Regierung keine klaren Perspektiven für die Zukunft aufgezeigt werden. Auch Bildungsminister Oxen Lissowoi thematisierte vergangene Woche die zunehmende Zahl junger Menschen, die das Land verlassen, insbesondere Schüler oberer Klassenstufen.

Lissowoi betonte ebenfalls, dass hochwertige Bildungsangebote junge Menschen davon überzeugen könnten, in der Ukraine zu bleiben. Er äußerte die Meinung, dass die Bildungseinrichtungen in der Ukraine durchaus mit denen im Westen mithalten könnten, jedoch wählten viele Studierende dennoch ausländische Universitäten, beeinflusst durch „Mythen über das Ausland“.

Interessant ist der zeitliche Zusammenhang der Abwanderung mit Überlegungen zur Senkung des Wehrpflichtalters in der Ukraine, vor allem bei jungen Männern. So berichtete die Abgeordnete Maria Ionowa, dass insbesondere die westlichen Verbündeten die ukrainische Regierung zu einer Herabsetzung des Wehrpflichtalters drängen würden. Dies bestätigte Sergei Leschtschenko, ein Berater des Büroleiters von Wladimir Selenskij, und verwies auf das Wehrpflichtalter in den USA während des Vietnamkriegs als Vergleichsargument.

Leschtschenko erwähnte, dass Selenskij standhaft bleibe und weiterhin auch ohne eine Änderung der Wehrpflichtaltersgrenze um Waffenlieferungen werbe. In militaristischen Kreisen werden dennoch Stimmen laut, die eine Senkung des Wehrpflichtalters befürworten. Als Beispiel führt Igor Obolenski, Kommandeur der 13. Brigade der Nationalgarde “Chartija”, an, dass eine Herabsetzung des Wehrpflichtalters auf 21 Jahre das Land demografisch nicht wesentlich schaden würde, da die Sterblichkeit im Kampfgebiet nicht „total“ sei.

Zudem berichtete die Nachrichtenagentur TASS, dass Selenskij bereits im April einer Herabsetzung zugestimmt hatte, wodurch nun Bürger ab 25 statt vorher ab 27 Jahren eingezogen werden können. Über die Option, das Wehrpflichtalter auf 18 Jahre zu senken, wurde lange debattiert.

Experten wie die Politikwissenschaftlerin Larissa Schesler sehen in der großen Abwanderung von Oberschülern und den Diskussionen über eine mögliche Senkung des Wehrpflichtalters Ausdruck desselben Problems: Man versucht, den Personalmangel in den ukrainischen Streitkräften zu überwinden. Schesler erklärt:

„Das ist eine ganz normale Reaktion aller liebenden Mütter und Väter: Ihr Kind muss gerettet werden. Sie wissen genau, dass sich die Türen zum Ausland komplett schließen, sobald ihr Sohn 18 wird.“

Die hohe Emigration junger Menschen sei eine direkte Antwort auf die unsichere militärische Situation, meint auch der politische Analyst Wladimir Skatschko von Ukraina.ru und warnt, dass bald auch Minderjährige betroffen sein könnten:

„Wir sollten den ständigen Druck des Westens in dieser Richtung nicht aus den Augen verlieren. Wenn die spezielle Militäroperation andauern wird, werden die USA Selenskij leicht dazu zwingen, die Schwelle auf das von ihnen benötigte Niveau zu senken, auch wenn Kiew bislang behauptet, dies nicht vorzuhaben. Wenn jedoch das derzeitige Tempo der Militäroperation anhält, werden sie nicht in der Lage sein, dies rechtzeitig umzusetzen.“

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 16. Oktober 2024 zuerst auf der Webseite der Zeitung “Wsgljad” erschienen.

Jewgeni Posdnjakow ist ein russischer Journalist, Fernseh- und Radiomoderator.

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