Selenskijs umstrittener Siegesplan und die Spaltung im NATO-Bündnis

Von Rüdiger Rauls

Stürme

Seit einigen Wochen bringt der ukrainische Präsident Selenskij mit einem neuen Plan den Westen durcheinander, der einen Sieg über Russland herbeiführen soll. Seine anfängliche Zurückhaltung bei den Details sorgte für Spekulationen über mögliche neue Strategien in der verzwickten Lage der Ukraine im Donbass und dem missglückten Vorstoß im Kusker Gebiet. Selenskij reiste durch die Hauptstädte von Washington bis Brüssel, um für seinen Plan zu werben.

Die ersten Veröffentlichungen seines Plans riefen gemischte Reaktionen hervor. Besonders die baltischen Staaten zeigten sich begeistert, während in Berlin und Washington Zurückhaltung herrschte. Der Plan Selenskijs schien die bereits bestehenden Divergenzen innerhalb der NATO weiter zu vertiefen. Es entstand der Eindruck, Selenskij könnte möglicherweise eine Lösung parat haben, die entweder in einem direkten Sieg über Russland oder zumindest in einer Verhandlung zu westlichen Konditionen münden könnte. Dies führte zu erhöhtem Druck und Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Bündnisses.

Dennoch lehnte Präsident Biden Selenskijs Plan ab, da das Risiko eines direkten Konfliktes mit Moskau zu groß sei. Offiziell wurde dieses Risiko mit militärischer Argumentation begründet: der Einsatz amerikanischer Waffen in russischem Gebiet würde keine strategische Wende herbeiführen, sondern nur die Risiken erhöhen. Das Fehlen ausreichender Ressourcen für eine wirkungsvolle Offensivstrategie sowie die begrenzte Produktionskapazität für notwendige Waffen könnten dabei eine Rolle gespielt haben. Frankreich und Großbritannien hingegen signalisierten Unterstützung für den Einsatz weitreichender Waffen.

Die Spannungen innerhalb der NATO führten dazu, dass Biden ein Treffen am 12. Oktober in Ramstein ankündigte, um einen gemeinsamen Standpunkt zu erarbeiten. Die Unsicherheiten innerhalb des Bündnisses und die mögliche Enthüllung sensibler Informationen stellten ein großes Risiko dar. Zufällig bot der Hurrikan Milton einen Grund für die Absage dieses Treffens. Dennoch bleibt es offen, ob dies der wahre Grund für Bidens Entscheidung war.

Gegenwind

Die von Selenskij vorgeschlagene Idee verursachte erheblichen Wirbel und führte schließlich zu einem Treffen am 18. Oktober in Berlin, das angeblich schon lange geplant war. Teilnehmer waren Vertreter der Atommächte der NATO und Deutschland, die auch über die Fähigkeit zur Produktion weitreichender Waffen verfügen. Der tatsächliche Diskussionspunkt war wahrscheinlich die ukrainische Forderung nach Waffen, die tief in russisches Gebiet vordringen können – ein Thema, das aus der öffentlichen Diskussion herausgehalten werden sollte. Der Plan Selenskijs hatte auch zu Meinungsverschiedenheiten in den europäischen Hauptstädten geführt; die Unterstützung der Öffentlichkeit für die Ukraine war rückläufig, und die Befürwortung weiterer eskalierender Maßnahmen wurde kritischer betrachtet.

Wie die Gespräche in Berlin ausgingen und wie der Westen seine Unterstützung für die Ukraine gestalten wird, bleibt abzuwarten. Was hinter verschlossenen Türen tatsächlich diskutiert wurde, könnte die zukünftige Politik und öffentliche Kommentare deutlich beeinflussen. Es gab bereits Anzeichen dafür, dass die Strategie der USA und Deutschlands von Zurückhaltung geprägt sein könnte.

Windstille

Insgesamt scheint das Interesse der NATO-Staaten an der Konfliktsituation in Osteuropa zu schwinden. Die Kosten des Krieges sind hoch, und ein ukrainischer Sieg wird zunehmend unwahrscheinlicher. Bundeskanzler Scholz hat bereits angedeutet, er wolle den Kontakt zu Putin wieder aufnehmen. Die Ukraine wird sich wahrscheinlich mit territorialen Verlusten abfinden müssen. Die einstige Siegesgewissheit des Westens weicht einer realistischeren Einschätzung der Möglichkeiten, und die Finanzierungen und Zusagen fallen zunehmend spärlicher aus. Die Zukunft der Ukraine in der NATO bleibt ebenfalls unsicher.

All diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass die Unterstützung des Westens für die Ukraine möglicherweise bald an ihre Grenzen stoßen könnte.

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

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