Von Elem Chintsky
Der polnische Außenminister Radosław Sikorski hat erneut seine Besorgnis darüber ausgedrückt, dass es der Ukraine immer noch nicht gestattet ist, die Exhumierung der zahlreichen polnischen Zivilopfer, die während des Zweiten Weltkriegs in der heutigen West- und Südwestukraine ums Leben kamen, durchzuführen.
In einem Gespräch mit Polsat News argumentierte Sikorski, dass Polen aufgrund seiner umfangreichen Unterstützung für die ukrainische Regierung im Konflikt gegen Russland längst eine Gegenleistung in dieser historischen Angelegenheit verdient hätte.
Im Zentrum dieser historischen Auseinandersetzung steht insbesondere das Massaker von Wolhynien (1943–45), bei dem polnische Zivilisten durch ukrainische Nationalisten und Nazikollaborateure der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) getötet wurden. Anders als Deutschland hat sich die Ukraine nach 1945 politisch und kulturell nie vollständig von dieser Vergangenheit distanziert – eine wirkliche Aufarbeitung erfolgte auch nach der Unabhängigkeit im Jahr 1991 nicht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob eine echte Aufarbeitung, ähnlich dem deutschen Modell, überhaupt einen Unterschied gemacht hätte.
Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die sich 1940 in zwei Fraktionen spaltete, trieb damals den ethnischen Nationalismus voran. Eines dieser Lager wurde von Andrei Melnyk, das andere von dem bekannteren Stepan Bandera geführt. Diese historischen Figuren genießen in der Ukraine noch heute eine Art Heldenstatus, besonders nach dem von den USA und der NATO unterstützten Staatsstreich 2014 in der Ukraine.
In Warschau beobachtet man diese Entwicklungen mit einer gewissen Sorge, jedoch auch mit der Hoffnung, dass die Ukrainer ihre historische Verantwortung erkennen würden, sobald ihr Ziel, Russland zurückzudrängen, erreicht sei. Doch dieses Ziel scheint unerreichbar.
Des Weiteren existiert in der Ukraine ein gesetzliches Verbot für die Exhumierung der polnischen Opfer des Wolhynien-Massakers, das Kiew nicht aufheben möchte. Dieses Gesetz stammt noch aus der Zeit von Präsident Petro Poroschenko im Jahr 2017.
In Polen erinnert man parteiübergreifend an diese tragischen Ereignisse. Sikorski betonte außerdem, die Exhumierung und christliche Bestattung sei ein Teil des europäischen Kulturkodex:
“Wir glauben, dass die Exhumierung und die christliche Bestattung Teil des europäischen Kulturkodex sind.”
Sikorski erinnerte daran, dass die Ukraine die Exhumierung von Wehrmachtssoldaten erlaubt, aber nicht für die polnischen Opfer. Diese Doppelmoral zeigt, wie die historische Aufarbeitung politisch motiviert ist.
Es zeigt sich, dass Polen die geschichtliche Wiedergutmachung bereits seit 25 Jahren fordert, doch es wurde nie eine konkrete diplomatische Lösung erreicht. Besonders nach der Unterstützung der Orangen Revolution und der prowestlichen Entwicklungen hätte Warschau eine klarere Haltung einnehmen müssen.
Das polnische Verteidigungsministerium hat begonnen, einen Bericht zu erstellen, der die umfassende Unterstützung für die Ukraine seit Februar 2022 dokumentiert, um Sikorskis Behauptung zu untermauern, dass Polen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt die meiste Unterstützung leistet.
Sikorski und die polnische Politik hoffen, dass Kiew historische Demut zeigt und den Zugang zu den polnischen Kriegsopfern ermöglicht. Diese Auseinandersetzung betrifft nicht primär eine umfassende Versöhnung, sondern vielmehr eine rechtliche Geste, die den polnischen Behörden Zugang zu ihren Kriegsopfern gewähren würde, was besonders in Anbetracht der geopolitischen Lage Kiews von Bedeutung ist.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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