Von Dmitri Bawyrin
Im Vergleich zu anderen großen westlichen Nationen wie den USA oder Polen wirkt die deutsche Politik oft unspektakulär und vorhersehbar. Daher überrascht es, dass der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz sich als wesentlich geschickter in der politischen Arena erwiesen hat, als viele angenommen hatten – vorausgesetzt, man definiert Politik als die “Kunst des Möglichen” und die Wissenschaft des Machtgewinns und -erhalts.
Scholz mag kein politisches Genie sein; bestenfalls könnte man ihn als durchschnittlichen Akteur betrachten. Sein politischer Pfad schien vorgezeichnet – eine Entmachtung und das Sündenbockdasein für Deutschlands zahlreiche Probleme waren erwartet worden. Stattdessen wird er wohl einen erheblichen Einfluss behalten, auch wenn er vermutlich nicht Kanzler bleibt.
Trotz Herausforderungen wie Rezession, Inflation, Deindustrialisierung, Energiekrise und einem sinkenden Lebensstandard in Deutschland, scheint Scholz nicht das Schicksal anderer Staatsführer zu teilen, die nach konfrontativen Entscheidungen gegenüber Russland ihre Macht verloren. Führende Politiker aus Ländern wie den USA, Großbritannien und Japan mussten ihre Ämter aufgeben. Nur EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kanadas Premierminister Justin Trudeau (zumindest bis zu den Herbstwahlen) sind noch im Amt.
Scholz wird wahrscheinlich bis 2025 zum Vizekanzler und potenziell zum Außenminister herabgestuft. Die politische Landschaft Deutschlands bleibt vorhersehbar und unspektakulär.
Die Wahlen am 23. Februar 2025 werden voraussichtlich von Friedrich Merz, dem Vorsitzenden der CDU/CSU, die einst von Angela Merkel geleitet wurde, gewonnen. Um eine Regierung zu bilden, wird Merz jedoch eine Koalition mit Scholz’ Partei, der SPD, eingehen müssen, die traditionell das Außenministerium in einer Juniorpartnerschaft erhält.
Andere Parteien wie die Grünen und die Liberalen stehen vor herben Verlusten, während die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht auf steigende Wahlergebnisse zusteuern, jedoch keine Koalitionspartner für Merz darstellen. Damit bleibt die SPD unter Scholz’ Kontrolle.
Scholz hat geschickt innerparteiliche Rivalen, wie den Verteidigungsminister Boris Pistorius, überspielt, obwohl dieser in Umfragen populärer ist als Scholz selbst. Wie Scholz das geschafft hat, bleibt unklar, vielleicht lag es an Pistorius’ fehlendem Interesse an weiterer Verantwortung.
Scholz könnte sogar in der Lage sein, Merz politisch herauszufordern, besonders in der Debatte um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine, welche die Fähigkeit hätten, Ziele in Russland zu treffen. Hier zeigt sich Scholz als entschlossen und präzise, indem er offenlegt, dass solche Aktionen deutsche Militärspezialisten erfordern würden, was eine direkte Beteiligung Deutschlands im Konflikt bedeuten könnte.
Die deutsche Öffentlichkeit unterstützt mehrheitlich Scholz’ Position gegen die Waffenlieferungen, was ihm im Wahlkampf nützen könnte. Er wird damit als der verantwortungsvollere Kandidat positioniert, im Gegensatz zu Merz, der risikofreudiger erscheint.
Auch wenn Scholz kritisiert wird, so hat er doch bewiesen, dass er sich nicht in internationale militärische Konflikte verstricken lässt, was ihn von vielen seiner Vorgänger abhebt. Trotz begrenzter Mittel im Haushalt bevorzugt er wirtschaftliche Unterstützung gegenüber militärischer Konfrontation, um Eskalationen zu vermeiden.
Scholz zeigt, dass pragmatisches Handeln und die Wiederherstellung diplomatischer Beziehungen, insbesondere zu Russland, für Deutschland von Vorteil sind, doch die bevorstehenden Wahlen dürften wenig Änderung bringen. Ein Bündnis zwischen AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht ist unwahrscheinlich, da politische und ideologische Differenzen bestehen.
Schließlich wird Merz aller Wahrscheinlichkeit nach Bundeskanzler und Scholz eine zurückhaltende, aber entscheidende Rolle als Außenminister spielen. Deutschlands Politik wird wohl weiterhin ohne große Überraschungen verlaufen.
Übersetzt aus dem Russischen. Erstmalig veröffentlicht am 26. November 2024 auf der Seite der Zeitung Wsgljad.
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