Von Rüdiger Rauls
Veränderungen der Machtverhältnisse
Der Sturz Assads könnte sich für die syrische Bevölkerung nur dann als vorteilhaft erweisen, wenn zugleich die Sanktionen des Westens aufgehoben werden und der Wiederaufbau des Landes Fortschritte macht. Doch ist eher mit einer Zunahme der politischen und gesellschaftlichen Spannungen zu rechnen. Schon unter Assad war die Zentralregierung in Damaskus zu schwach, um das ganze Land zu kontrollieren und inneren Frieden sowie wirtschaftliche Entwicklung zu gewährleisten – und es ist unwahrscheinlich, dass sich dies unter den neuen Machthabern ändern wird. Bedeutende ökonomische Ressourcen, wie die Ölfelder in den kurdischen Regionen, bleiben Damaskus vorerst verwehrt.
Zeitgleich mit den HTS-Militäreinheiten aus dem Norden sollen auch südliche Rebellengruppen in die Hauptstadt eingerückt sein, die mit den HTS-Islamisten “in andauernder Ablehnung verbunden sind” (FAZ). Dieses Aufeinandertreffen verschiedener Kräfte verschärft die Gefahr von Zuständen wie in Tripolis, wo mehrere Milizen um die Vorherrschaft ringen, was wiederum die politische und wirtschaftliche Stabilisierung erschwert.
In Folge von Assads Sturz sind in Syrien neue Machtpole entstanden, die die ohnehin schon schwache Griffkraft der Zentralmacht weiter schwächen. Dies zeigt sich deutlich in der Unfähigkeit, die intensiven israelischen Angriffe abzuwehren. Obwohl diese schon unter Assads Regime stattfanden, waren sie damals weniger zerstörerisch. Nun haben sie fast die gesamte syrische Luftabwehr vernichtet, “insbesondere wurden Flugabwehrraketen russischer Bauart von den israelischen Kampfflugzeugen zerstört.” Es scheint, als gäbe es keine syrische Armee mehr, die bereit wäre, sich den neuen Herrschenden zu unterstellen.
Im nördlichen Sicherheitskorridor expandiert zudem die türkische Unterstützung der Syrischen Nationalarmee (SNA). Nach dem Fall Assads und dem Vormarsch der HTS nach Damaskus, hat die SNA “Gebiete, die von kurdischen Milizen kontrolliert wurden, erobert.” Vorher hatten sie bereits die Stadt Manbidsch eingenommen. Ein SNA-Sprecher berichtete, seine Truppen “hätten auch die Großstadt Deir-ez-Zor und den dortigen Militärflugplatz erobert”.
Zunehmender Druck auf Ankara
Die Türkei intensiviert ihren Einfluss in Syrien. Sie unterstützt nicht nur die SNA, sondern verstärkt durch deren Vormarsch auch den Druck auf die Kurdengebiete. Mit Waffenlieferungen und weiterer Unterstützung hat sie der HTS ermöglicht, die Offensive gegen Assad zu starten. Zwischen der Gruppierung und dem türkischen Geheimdienst bestehen enge Verbindungen.
Der HTS-Führer al-Dschaulani konnte “mit anhaltender Unterstützung den Ausbau seiner Machtbasis in Idlib fortsetzen” (FAZ). Die Türkei hat ihn zu ihrem Akteur gemacht und zögert nun nicht, ihre neu gewonnene Machtposition in Syrien zu konsolidieren und für eigene Interessen zu nutzen.
Die Türkei verfolgt hierbei nicht nur Ziele der Machtpolitik. Erdoğan hat früh klar gemacht, dass er keine syrischen Gebiete dauerhaft besetzen möchte. Die Bewältigung des Flüchtlingsproblems steht neben der Eindämmung der Kurden im Vordergrund. Die wirtschaftliche Situation in der Türkei ist angespannt, seit Investoren nach dem Putschversuch 2016 ihre Gelder abzogen. Die gestiegene Inflation und die zunehmende Feindseligkeit gegenüber syrischen Flüchtlingen in der Türkei setzen Erdoğan innenpolitisch unter Druck. Die Verhandlungen mit Syrien über eine Rückkehr der Flüchtlinge scheiterten kürzlich, was für die Türkei Anlass sein mochte, der HTS grünes Licht für ihre Invasion zu geben.
Ankara bestreitet eine direkte Beteiligung an der Offensive. Doch ist klar, “dass sie ohne türkische Zustimmung undenkbar gewesen wäre”. Wahrscheinlich lag der Schwerpunkt der türkischen Interessen im Gebiet Aleppo, aus dem viele syrische Flüchtlinge stammen. Mit der Eroberung dieses Gebiets hätte vielen Flüchtlingen die Rückkehr ermöglicht werden können, was den gesellschaftlichen Druck in der Türkei verringert hätte. Doch die Kampfverweigerung der syrischen Armee ermöglichte den Rebellen einen schnelleren und weiteren Vormarsch als erwartet. Angesichts dieser unvorhergesehenen Entwicklung suchte die Türkei nach Schadensbegrenzung, da eine Entlastung in der Flüchtlingsfrage erwünscht war, jedoch kein größerer regionaler Konflikt provoziert werden sollte. Nachdem die rasche Entwicklung erkennbar wurde, kontaktierte Erdoğan umgehend Putin, um die Lage zu besprechen und in Doha eine Neuabstimmung der Einflusssphären anzuschreiten.
Ausweitung der Einflusssphären
Die regionalen Spannungen könnten wegen russischer Militärstützpunkte in Syrien zunehmen. Bisher hat Israel vorrangig syrische und iranische, jedoch nicht russische Einrichtungen angegriffen. Wie die USA sich verhalten werden, bleibt offen. Einige westliche Akteure sehen in Assads Sturz eine Gelegenheit, den russischen Einfluss zurückzudrängen. Trotz Fehleinschätzungen aus dem Jahr 2022 hoffen sie weiterhin, Russland eine Niederlage zu bereiten.
Einige europäische Länder würden die neue Situation gern nutzen, doch ihre begrenzte Präsenz im Nahen Osten, abgesehen von Israel, macht dies schwierig. Sie versuchen, über Bedingungen und Vorsätze Einfluss zu nehmen, doch auf internationaler Ebene findet dieser Ansatz wenig Anklang. Die USA bleiben zwar involviert, ihr Hauptaugenmerk liegt jedoch auf dem Schutz der Kurden. Derweil haben sich die Russen seit Jahren effektiv in der Region vernetzt und scheinen weniger Probleme mit der neuen politischen Landschaft zu haben als andere. Moskau steht “mit allen Gruppen der syrischen Opposition in Kontakt” und hat die Sicherheit seiner Einrichtungen von der neuen Regierung garantiert bekommen.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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