Von Rüdiger Rauls
Zweierlei Maßstäbe
Im politischen Westen zeigt sich eine zunehmende Tendenz, unterschiedliche Maßstäbe anzulegen, wenn es um die Beurteilung von Islamisten und Terroristen geht. Während Terrorismus unverändert verurteilt und Menschenrechte hochgehalten werden, scheinen nicht alle Autokraten mit der gleichen Verachtung behandelt zu werden. Dies gilt besonders für Nationen wie Saudi-Arabien, einen strategischen Partner, oder Aserbaidschan, das für seinen Gasreichtum geschätzt wird – eine Ressource, die man angesichts der Spannungen mit Russland nicht missen möchte.
Die Haltung gegenüber Menschenrechten scheint ebenfalls doppelt gemessen zu werden. Während der Islamische Staat (IS) seinen Terrorkampagne führte, wurden im gleichen Zeitraum in der chinesischen Provinz Xinjiang uigurische Islamisten für Bombenanschläge nach chinesischem Recht verurteilt. Im Westen jedoch wird die Behandlung der Uiguren in China als Verfolgung dargestellt und Exilregierungen der Uiguren erhalten Unterstützung einschließlich Sanktionen der USA gegen China.
In den von Kurden bewohnten Gebieten Syriens werden „etwa 10.000 Islamisten in etwa einem Dutzend Gefängnissen festgehalten ohne Prozess und im Lager al-Hol etwa 50.000 Angehörige, vorwiegend Frauen und Kinder, von IS-Kämpfern“. Über deren Lebensbedingungen dringt kaum etwas an die Öffentlichkeit, obwohl dies alles unter den Augen der dort stationierten US-Soldaten und mit Duldung der westlichen „Wertemissionare“ geschieht.
Klar wird: Der politische Westen unterscheidet sichtbar zwischen verschiedenen Gruppen von Islamisten, etwa denen in den Uigurengebieten Chinas und denen in Syrien, und unterstützt dabei manchmal jene Gruppen, die sich gegen Gegner wie Assad richten, trotz ihrer Einstufung als Islamisten.
Die Neubewertung ist unvermeidlich
Die Kämpfer aus Idlib, die früher als Al-Quaida-Mitglieder oder IS-Mitkämpfer betrachtet wurden, zwingen den Westen in eine Zwickmühle. Obgleich westliche Repräsentanten heute Verhandlungen mit deren Anführern führen, wie zum Beispiel mit Ahmad al-Sharaa, wurde kürzlich noch ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Im Gegensatz dazu steht die Behandlung Putins durch den Internationalen Gerichtshof. Der Westen hat offensichtlich einen pragmatischen Pfad eingeschlagen, was die Beziehungen zu diesen Gruppen betrifft, in der Hoffnung, dass deren Macht in einer geopolitisch wichtigen Region nicht ignoriert werden kann.
Die Herausforderung für viele politische Kommentatoren im Westen besteht nun darin, wie diese Entwicklungen und Akteure neu bewertet und dargestellt werden sollen. Man möchte Sympathien für sie vermeiden, um die öffentliche Meinung nicht zu irritieren, muss jedoch zugleich erklären, weshalb Beziehungen zu diesen nun wichtigen Islamisten geknüpft werden.
Vom Saulus zum Paulus
Es bleibt den westlichen Führungskräften kaum etwas anderes übrig, als die neuen Machthaber in Syrien hoffähig zu machen. Ahmad al-Sharaa und seine Gruppe HTS stellen eine der letzten Kräfte dar, die zur Stabilisierung Syriens beitragen können, nachdem andere durch den Krieg und westliche Sanktionen geschwächt wurden. So wird der Westen gezwungen, den ehemaligen Islamisten einen gewissen Respekt zu zollen und das bisher schlechte Bild über sie zu mildern.
Es zeigt sich, dass die ursprüngliche Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) über die Ereignisse, die zum Sturz von Assad führten, die Kämpfer aus Idlib selten als Islamisten bezeichnet und häufiger deren pragmatischen Ansatz hervorhebt. Die Notwendigkeit, eine neue Realität ohne Assad zu akzeptieren, scheint unausweichlich, selbst wenn diese von einstigen Islamisten geformt wird.
Mehr zum Thema – Normalisierungsprozess mit Islamisten: US-Delegation trifft neue Machthaber in Syrien
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.