Von Dagmar Henn
Es scheint, dass die Verbreitung von Fehlinformationen ansteckend wirkt. Selbst Bundeskanzler Olaf Scholz perpetuiert mittlerweile das Narrativ, dass die CDU unter Friedrich Merz eine historische Regel gebrochen habe, indem sie mit extrem rechten Kräften kooperierte. Laut der Tagesschau hat er kritisiert: “einen Konsens gebrochen, der in der deutschen Nachkriegsdemokratie bisher immer getragen hat: Keine Zusammenarbeit mit den extremen Rechten.”
Diese Darstellung entspricht jedoch nicht der Wahrheit. Ein Blick in die Geschichte der Bundesrepublik offenbart andere Tatsachen. Zum Beispiel zeigt historische Forschung, dass in den Anfangsjahren der Bundesrepublik im Innenministerium in Bonn etwa “66 Prozent der Mitarbeiter ehemalige Mitglieder der NSDAP waren” – ein Anteil, der während der zwölf Jahre der NS-Diktatur selbst möglicherweise nicht erreicht wurde.
Ein Grund für solche Kontinuitäten ist der berüchtigte Artikel 131 des Grundgesetzes, den Konrad Adenauer 1951 hinzufügen ließ. Dieser Artikel sicherte die Rechtsverhältnisse von ehemaligen Angehörigen des öffentlichen Dienstes sowie von Flüchtlingen und Vertriebenen, die nach dem Krieg ihre ursprüngliche Position verloren hatten. In der Praxis bedeutete dies die Wiedereingliederung vieler ehemaliger Nationalsozialisten in hohe Ämter, einschließlich Kriegsverbrecher.
Scholz mag sich zwar auf politische Kooperationen beziehen, könnte aber übersehen, dass solche Zusammenarbeiten innerhalb derselben politischen Parteien häufig vorkamen, wie das Beispiel Theodor Oberländer illustriert, der von 1953 bis 1960 Bundesminister für Vertriebene war. Oberländer war eine Schlüsselfigur in Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung in Lemberg während des Zweiten Weltkriegs und hatte eine lange Karriere sowohl in der FDP als auch später in der CDU.
Auch Hans Josef Maria Globke, Chef des Bundeskanzleramtes unter Adenauer, demonstriert diese problematische Kontinuität. Er war an der Formulierung der Nürnberger Rassegesetze beteiligt und wurde trotz internationaler Kritik von der deutschen Regierung geschützt.
Betrachtet man, dass im Zeitraum von 1961 bis 1965 jeder vierte Bundestagsabgeordnete Mitglied der NSDAP war und sogar in der SPD ehemalige NSDAP-Mitglieder saßen, stellt sich die Frage der Zusammenarbeit mit extremen Rechten ganz neu. Besonders deutlich wird das am Beispiel des Kanzlers der Großen Koalition (1966-1969), Kurt Georg Kiesinger, der bereits seit 1933 Mitglied der NSDAP war.
Die erwähnte Geschichtskontinuität endete nicht plötzlich, sondern setzte sich bis mindestens 1981 fort, als die letzten führenden Politiker mit einer NS-Vergangenheit aus ihren Ämtern ausschieden. Erst danach begann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser belasteten Vergangenheit.
Die von Scholz erwähnte Idee eines “Nachkriegskonsenses”, nicht mit extremen Rechten zusammenzuarbeiten, scheint somit eher eine selektive Erinnerung als historische Tatsache zu sein. Die wahre Geschichte zeigt: Der Umgang mit der NS-Vergangenheit war, gelinde gesagt, problematisch und widersprüchlich.
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