Am Rande des Abgrunds: Deutschland konfrontiert seine tiefste Krise

Von Rüdiger Rauls

Untergang

In einer Zeit, in der Kommentatoren oft apokalyptische Vorhersagen treffen, um sich zu profilieren oder ihre Sachkenntnis unter Beweis zu stellen, sollte präzisiert werden, was mit “Untergang” gemeint ist. Unter diesem Begriff ist nicht das buchstäbliche Verschwinden Europas zu verstehen. Der Kontinent wird nicht von der Landkarte verschwinden, es sei denn, es käme zu einem globalen nuklearen Ereignis. Vielmehr drohen politische Systeme und Strukturen innerhalb Europas zu erodieren, sei es durch den Zerfall einzelner Staaten oder durch das Bröckeln übergeordneter Einheiten wie der Europäischen Union. Die Gefahr besteht nicht in einem physischen Untergang, sondern in einem Verlust von politischen und gesellschaftlichen Normen und Werten.

Europäische Denkweisen in politischen Führungskreisen scheinen immer weniger in der Lage zu sein, mit den dynamischen Veränderungen weltweit Schritt zu halten. Dies führt zunehmend zu Fehlentscheidungen, da Ideale oft die harten Realitäten überlagern. Diese Verschiebung hat sich insbesondere mit der Wahl Donald Trumps als US-Präsident beschleunigt, was ein Abrücken von langjährigen, wertebasierten Prinzipien signalisiert.

Die Abkehr von solchen Wertvorstellungen erfolgt unter Trump, der amerikanische Interessen wieder stärker in den Vordergrund rückt. Diese politische Neuausrichtung erfolgt impulsiv und ohne tiefgehende strategische Überlegungen, ähnlich dem Durchschlagen eines Gordischen Knotens. Für Trump und viele Amerikaner war die Abwendung von einer als heuchlerisch wahrgenommenen Politik der doppelten Standards ein dringendes Anliegen.

Abgesang

Die bisherige Wertepolitik könnte vollends verworfen werden, sollte Trumps Amtszeit die bisherigen politischen Traditionen nachhaltig unterbrechen. Auch zuvor war diese Werteorientierung im Kern eine Form der Interessenpolitik, jedoch subtiler ausgeführt. Im Gegensatz zu früheren politischen Wechseln, wie etwa der von Jimmy Carter eingeleiteten Abwendung von einer militärzentrierten Anti-Kommunismus-Politik, erfolgt Trumps Wandel abrupt und ohne Vorankündigung.

Strategische Überlegungen fehlen offenbar bei Trumps Ansatz. Vielmehr spiegelt er das Unbehagen eines großen Teils der Bevölkerung wider, die sich durch die Politik der Werte zunehmend eingeengt fühlte. Die Werteorientierung hat letztlich zu Problemen sowohl in der internationalen Politik als auch innerhalb der Gesellschaften der westlichen Welt geführt.

Trump hat nun diesen Knoten durchschlagen, indem er Versuche unternimmt, die Politik auf rein pragmatische und interessegeleitete Weise neu zu gestalten. Diese Neuausrichtung zielt nicht darauf ab, inspirierende neue Wege für die Menschheit zu öffnen, sondern vielmehr darauf, amerikanische Interessen unmissverständlich in den Vordergrund zu stellen und diese auch gegen Widerstände durchzusetzen.

Die Vorherrschaft amerikanischer Interessen zeigt sich auch in Trumps Außenhandelspolitik, die keine Unterscheidung mehr zwischen Freunden und Feinden macht. Er sieht in anderen Ländern eher Gegner als Partner und setzt aggressive Handelspolitiken wie Zölle ein, um amerikanische Wirtschaftsinteressen zu fördern.

Verblendung

Europa wird von dieser Entwicklung kalt erwischt. Bereits aus Trumps erster Amtszeit ist bekannt, dass er primär wirtschaftlichen Nutzen für die USA anstrebt, was bisher noch als freundschaftliche Rivalität gesehen wurde. Dass er jedoch bilaterale Verhandlungen mit Akteuren wie Putin ohne europäische Beteiligung führt, trifft die Europäer tief.

Angetrieben von der Sorge, ohne amerikanischen Schutz dazustehen, haben die Europäer schnell nachgegeben und sich bereiterklärt, mehr der finanziellen Lasten zum Schutz des Kontinents zu tragen und auch die Unterstützung der Ukraine fast autonom zu übernehmen, um Friedensverhandlungen mit Russland unter ungünstigen Bedingungen zu vermeiden.

Die Europäer, nun uneins und strategisch geschwächt, versuchen, ihre militärischen Kapazitäten aufzustocken, um einer möglichen Aggression ohne amerikanische Unterstützung begegnen zu können. Diese verzweifelten Versuche verdeutlichen, wie tief die Krise der Selbsteinschätzung und der politischen Realität in Europa reicht.

Selbstüberschätzung

Die steigende Verschuldung der Europäer, motiviert durch die Angst vor einer isolierten Position gegenüber globalen Bedrohungen, führt zu einer gefährlichen finanziellen Lage, die den Staatshaushalten ebenso schadet wie früher den amerikanischen. Ihre Wirtschaften sind nicht mehr produktiv genug, um die steigenden Kosten für Staat und Gesellschaft zu decken, ein Dilemma, das europäische Entscheidungsträger bisher ignorieren.

In dieser komplexen geopolitischen Landschaft sind kluge und vorausschauende Entscheidungen gefordert, die die Realitäten des internationalen Systems und die eigenen Kapazitäten objektiv bewerten. Nur so kann eine weitere Verschärfung der Krisen verhindert werden.

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

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