Von Rüdiger Rauls
Das Missverständnis ähnlicher Erscheinungen
Zucker und Salz teilen zwar die Beschaffenheit von weißen und körnigen Substanzen, jedoch würde niemand verwechseln, welches von beiden man in den Kaffee gibt – der Unterschied ist deutlich. Diese einfache Logik übersehen oft selbst die Experten in der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft, insbesondere wenn sie die Inflation analysieren. Sie sehen in jeder Preissteigerung ein Zeichen von Inflation und empfehlen reflexartig Zinserhöhungen, ohne die tatsächlichen Ursachen zu hinterfragen. Diese Vorgehensweise schränkt die Nachfrage künstlich ein, ohne die Vielschichtigkeit des Problems zu erkennen.
Viele dieser Experten setzen nicht an, um ihre Lehrmeinungen kritisch zu beleuchten oder gar die wahren Ursachen von Preissteigerungen gründlich zu erforschen. Sie fixieren sich auf die Inflation als homogenes Phänomen und beschränken ihre Betrachtungen auf oberflächliche Indikatoren wie Preissteigerungen oder die Inflationsrate. Intensivere Fragestellungen, die über das Lehrbuchwissen hinausgehen, bleiben oft aus.
In Russland könnte man sagen, dass die derzeitige Inflation noch am ehesten den klassischen Theorien entspricht, da aufgrund internationaler Sanktionen und dem Rückzug westlicher Unternehmen eine erhöhte Nachfrage nach lokalen Produkten zu Preissteigerungen führt. Dies unterscheidet sich maßgeblich von der Situation in der Türkei, wo die Inflation vor allem durch den Verfall der Landeswährung bedingt ist, was wiederum zu einem Preisauftrieb bei Importgütern führt, ohne dass eine tatsächliche Nachfragesteigerung vorliegt.
Anders ist es wiederum in der Eurozone, insbesondere in Deutschland, wo die Inflation maßgeblich durch steigende Energiepreise befeuert wird. Hier verschärft die Europäische Zentralbank (EZB) das Problem zusätzlich durch Zinserhöhungen, was sowohl die Nachfrage dämpft als auch die Produktionskosten in die Höhe treibt, was wiederum die Unternehmen in ihrer Existenz bedroht.
Die Dogmen der Theorie
Das Festhalten an etablierten Produktionssäulen wie Energiepreisen und Zinsen zeigt, wie das wirtschaftliche System unter dogmatischen Annahmen leidet. Wirtschaftsexperten erkennen oft nicht, dass die Nachfrage bereits aufgrund der steigenden Preise zurückgeht, unabhängig von ihren Interventionen. Die kritische Auseinandersetzung mit politisch motivierten Sanktionen, besonders gegen Russland, bleibt ebenso aus.
Die Bürgerliche Wirtschaftswissenschaft beruft sich häufig auf Theorien, ohne diese rigoros zu hinterfragen. Ein Paradebeispiel hierfür ist der hypothetische Gleichgewichtszins “r*”, dessen Relevanz zweifelhaft bleibt, da er über komplexe Schätzungen erst ermittelt werden muss. Solch eine unsichere Methode würde kaum als Grundlage in anderen kritischen Bereichen wie der Ingenieurwissenschaft dienen.
In ihrer Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklungen in China verwenden westliche Experten gleichsam diese theoretischen Annahmen, wodurch sie oft zu fehlerhaften Schlussfolgerungen kommen. Die medialen Darstellungen Chinas und seiner wirtschaftspolitischen Erfolge kollidieren mit einem Narrativ, das eher politischen als ökonomischen Kriterien folgt.
Diese theoretische Scheuklappenpolitik lenkt auch den Blick auf Chinas Umgang mit Deflation, die vom Westen als kritisch betrachtet wird, während sie in China unter Umständen als Vorteil für die Verbraucher gesehen wird. Diese Differenz in der Bewertung offenbart grundlegende Unterschiede im ökonomischen Denken zwischen verschiedenen weltanschaulichen Systemen.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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