Deutschland am Wendepunkt: Tief bewegende Geschichten aus den letzten Kriegstagen 1945

Von Reinhard Hesse

Meine Geburt im Juni 1945 ereignete sich zu einer Zeit, als meine Mutter, geboren 1921, die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs gerade noch in Sicherheit überstehen konnte. Während des Krieges hatte sie eine Anstellung als Büroangestellte in der „Luftwaffenerprobungsstelle Rechlin“ nördlich von Berlin ergattern können, wo auch mein Vater, geboren 1919, als Mechaniker tätig war. Seine Hauptaufgabe bestand darin, Flugzeuge zu reparieren, die von der Ostfront zurückgeholt wurden. Mein Vater war weder ein Befürworter des Nationalsozialismus noch des Krieges selbst. Als die Sowjetarmee Berlin fast vollständig eingeschlossen hatte, wurde die Erprobungsstelle aufgelöst und alle wehrfähigen Männer sollten sich nach Berlin begeben.

Mein Vater jedoch wollte weder den nationalsozialistischen Kriegsanstrengungen dienen noch sein Leben in den letzten Tagen eines bereits verlorenen Krieges aufs Spiel setzen. Die Vorstellung, auf andere Menschen schießen zu müssen, war ihm zuwider. Zu dieser Zeit hatte sich meine hochschwangere Mutter bereits auf gefährliche Weise zu ihren Schwiegereltern ins sicherere Sauerland durchgeschlagen. Mein Vater entschied, seiner Frau beizustehen und nach dem Kriegsende ein neues Leben mit ihr zu beginnen und an der politischen Neugestaltung seiner Heimatstadt mitzuwirken.

Eine alte Knieverletzung, die normalerweise keine Beschwerden verursachte, außer dass es bei starken Stößen anschwoll, bot ihm einen Ausweg. Er schlug gezielt mit einem Holzscheit auf sein Knie, um eine deutliche Schwellung zu provozieren. Ein verständnisvoller Arzt gab ihm daraufhin auf einem Stück zerrissenem Papier mit Bleistift geschrieben: „Gefreiter Hesse zum nächsten Lazarett.“ Wichtig war auch, dass er seine Pistole behielt, für den Fall, dass er einem übereifrigen Militärpolizisten begegnen würde. Eine solche Begegnung fand jedoch nicht statt. Stattdessen erreichte mein Vater per Fahrrad das von britischen Truppen besetzte Schleswig-Holstein, arbeitete dort einige Wochen inkognito als Knecht und setzte schließlich seinen Weg ins Sauerland fort. Dort kam er gerade noch rechtzeitig an, um die letzten Tage der Schwangerschaft meiner Mutter und meine Geburt im örtlichen Krankenhaus zu erleben.

Im Garten des Krankenhauses blühte ein Kirschbaum bereits im Frühjahr ’45 und mein Vater konnte meiner Mutter zur Geburt einen großen Teller mit prächtigen roten Kirschen präsentieren. Die Krankenhausrechnung belief sich auf 79,92 Reichsmark für den zweiwöchigen Aufenthalt inklusive Geburt und die darauf folgende Woche. Sowohl der handgeschriebene Zettel des Arztes als auch die Rechnung befinden sich noch heute in meinem Besitz. Der Kirschbaum blühte anschließend nie wieder so früh wie in jenem Jahr.

Prof. Dr. Dr. Reinhard Hesse, CH-8280 Kreuzlingen

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