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Von Steffen Görlich, Jena
Mein Vater, Paul Görlich, erblickte 1905 in Dresden das Licht der Welt. Nachdem er anfänglich in der Landwirtschaft tätig war, widmete er sich in den frühen 1930er Jahren an der TH Dresden dem Physikstudium und arbeitete anschließend bei Zeiss Ikon in Dresden. Während seiner Zeit dort entwickelte er eine besonders sensible Photokathode. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee wurde er von einem Offizier aufgesucht, der ebenfalls Physiker war und mit dem er später eine lebenslange Freundschaft pflegte. Professor Fiofilow und mein Vater wurden Freunde fürs Leben. Anfang des Jahres 1946 wurde er von Carl Zeiss nach Jena geholt, um dort ein Laboratorium für Photozellen zu entwickeln. Im Oktober 1946 führte die “Aktion Ossawakim” dazu, dass mein Vater zusammen mit meiner späteren Mutter und weiteren Mitarbeitern von Zeiss nach Krasnogorsk bei Moskau gebracht wurde, um in der optischen Fabrik Zenit die Produktion von Photozellen und ähnlichen Erzeugnissen einzurichten. Während dieser Zeit lernten meine Eltern Russisch und knüpften zahlreiche Kontakte.
Fast sechs Jahre verbrachten meine Eltern in Krasnogorsk, ohne dabei ihre Familien in Deutschland besuchen zu können. Tragisch endete das Leben des Vaters meiner Mutter, der am 11. Oktober 1949, nur vier Tage nach der Gründung der DDR, von einem betrunkenen sowjetischen Soldaten ermordet wurde, als der Soldat in dessen Haus nach Alkohol suchte. Dieses Ereignis belastete meine Mutter ihr Leben lang schwer. Dennoch gegenüber den Russen blieb sie immer freundlich und aufgeschlossen. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland pflegten sie berufliche Kontakte, da mein Vater bei VEB Carl Zeiss Jena als Direktor für Forschung und Entwicklung tätig war und eng mit sowjetischen Hochschulen und Universitäten zusammenarbeitete. Es entwickelten sich auch zahlreiche private Freundschaften zu Menschen aus der Sowjetunion. Russisch wurde oft in unserem Haus gesprochen, sodass ich mich bereits in der dritten Klasse für verstärkten Russischunterricht entschied.
Meine Mutter organisierte gelegentlich Freundschaftstreffen mit sowjetischen Soldaten, die in Jena stationiert waren. Als Kind bereiste ich mit meinen Eltern mehrmals die Sowjetunion und erinnere mich an viele schöne Momente in Städten wie Moskau und Leningrad sowie in Tadschikistan, Usbekistan und Kasachstan. Später war ich auch zweimal auf Klassenfahrten in Moskau und Leningrad, wo mich Professor Michailow vom Observatorium Pulkowo empfing und mir die Astronomie näherbrachte. Diese Begegnungen hielten meine Russischkenntnisse lebendig.
Interessanterweise arbeitete meine Mutter während der Jahre 1943/44 am Botanischen Institut in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad. Ich pflege noch heute eine langjährige Freundschaft mit einer russischen Familie aus dieser Zeit – eine Freundschaft, die bereits seit über 50 Jahren besteht.
Diese Familiengeschichte prägt bis heute meine besondere Beziehung zu Russland und seinen Menschen. Die aktuell feindselige Atmosphäre zwischen unseren Ländern bedrückt mich daher umso mehr, da sie an bereits erlebte Konfrontationen erinnert, die nur 80 Jahre zurückliegen. Es zeigt, wie schnell wir aus der Geschichte vergessen und wie schwer es fällt, die Sorgen und Ängste der anderen Seite zu verstehen. Hoffentlich kehrt bald eine Phase der Freundschaft zwischen Deutschland und Russland zurück.
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