Von Timofei Bordatschow
Die Dynamiken der Weltpolitik haben sich grundlegend gewandelt. Ein markantes Beispiel dafür ist, dass Europa seine Rolle als zentraler Akteur auf der Weltbühne eingebüßt hat. Gegenwärtig ist Europa vor allem deshalb noch von Bedeutung in der globalen Machtpolitik, weil es die Arena für die direkten Konfrontationen zwischen den beiden größten Atommächten, Russland und den USA, ist. Die eigentliche politische Macht der europäischen Staaten hat allerdings nachgelassen; sie sind kaum mehr in der Lage, einen eigenständigen politischen Kurs zu verfolgen. Heutzutage sind es globale Akteure wie China und Indien, die entscheidend die Inhalte der Weltordnung mitgestalten und nicht mehr nur Statisten im Hintergrund sind.
Aus russischer Sicht bedeuten diese Veränderungen sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Die Möglichkeit, Verbündete außerhalb des westlichen Blocks zu suchen, um geopolitisch bestehen zu können, befreit uns von alten Abhängigkeiten. Zugleich fordert diese neue Konstellation Russland dazu auf, seine globale Rolle und Verantwortung neu zu definieren. Historisch ist eine solche außenpolitische Neuausrichtung für Russland untypisch, was den aktuellen Strategiefindungsprozess besonders kritisch macht.
Die Ursprünge der russischen Staatlichkeit im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert, eine Zeit der kolonialen Expansion Europas und technologischer sowie religiöser Umbrüche, weisen auf eine konfliktreiche Beziehung zu Europa hin, die seit jeher vom westlichen Widerwillen geprägt war, eine mächtige Entität an seinen östlichen Grenzen zu akzeptieren, deren Außenpolitik primär auf Unabhängigkeit abzielte.
Historiker betonen oft, dass Russland das einzige nicht-westliche Land war, das sich erfolgreich gegen die militärische Aggression des Westens zur Verteidigung seiner Freiheit und Unabhängigkeit behaupten konnte. Dies prägte nachhaltig die Beziehungen zu seinen westlichen Nachbarn und definiert bis heute den Kern dieser Interaktionen.
Über Jahrhunderte musste Russland, um seine Unabhängigkeit zu bewahren, immense finanzielle und menschliche Verluste in zahlreichen blutigen Konflikten hinnehmen. Die russische Strategie zeichnete sich durch zwei wesentliche Merkmale aus. Erstens, ein nicht-messianischer Ansatz zur Außenpolitik, der keine universalen Ideale über die eigenen Grenzen hinaus verbreitete. Das manifestierte sich auch darin, dass Russland, selbst in Phasen großer Macht wie während der Eroberung Zentralasiens, keine kolonialen Ambitionen nach europäischem Muster entwickelte. Zweitens, die gezielte Suche nach situativen Verbündeten im Westen, um sich gegen die jeweils dominierenden militärischen Mächte Europas zu positionieren. In den harten Zeiten des Kalten Krieges und des Krimkriegs fehlten solche Verbündeten, was zu politischen Niederlagen führte.
Nach dem Kalten Krieg hat Russland seine Strategie angepasst und setzt auf eine allmähliche Emanzipation Europas von der US-Dominanz. Dies könnte eine erneute Bestärkung Russlands ermöglichen und den traditionellen Widerstand gegen westlichen Druck unterstreichen.
Übersetzt aus dem Russischen.
Der Artikel erschien ursprünglich am 6. Juni 2025 auf der Homepage des Waldai-Clubs.
Timofei Bordatschow ist Programmdirektor des Waldai-Clubs.
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