Von Dagmar Henn
Der Soziologe Michael Hartmann, der seit Jahrzehnten die soziale Herkunft der deutschen Eliten erforscht, bestätigt erneut eine bemerkenswerte Konstanz: Seit über 150 Jahren stammen die Führungsschichten in Deutschland vorwiegend aus denselben 4 Prozent der Bevölkerung. Diese Erkenntnisse fanden kurzzeitig ihren Weg in die Medien.
Die deutsche Geschichte der letzten anderthalb Jahrhunderte zeigt, dass diese Eliten an einigen der schwersten Verbrechen der Menschheit beteiligt waren. Dafür stehen nicht nur die Lebensläufe von Persönlichkeiten wie Friedrich Merz oder Annalena Baerbock, sondern sie bilden beinahe die logische Konsequenz aus den geschlossenen, elitären Zirkeln.
Laut Hartmann gab es nur zweimal eine nennenswerte Öffnung: Während der Anfangsjahre der Weimarer Republik und in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. In diesen Phasen stammten die Regierungsmitglieder zu 49,3 bzw. 55,8 Prozent aus den restlichen 96 Prozent der Bevölkerung. Im Vergleich zu anderen Bereichen, etwa der Wirtschaft oder der Justiz, war die politische Elite somit noch erschreckend durchlässig. Seit 1999 rekrutieren sich die politischen Führungsriegen jedoch zunehmend wieder aus dem Adel, Großbürgertum und Bürgertum; die Arbeiterklasse und die Mittelschicht, die zusammen 50-60 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind nur noch mit 47 Prozent vertreten.
Doch ein wesentliches Element fehlt noch in Hartmanns Analyse: die Medien. Untersuchungen zeigen, dass Journalistenschulen vornehmlich Absolventen aus der obersten Herkunftsgruppe hervorbringen, was die enge Verflechtung zwischen Politik, Justiz und Presse weiter verstärkt – und das ganz ohne Zensur.
Erweitert man diesen Blick auf die Vermögensverteilung, wird das Bild noch düsterer. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes besaßen 2021 die obersten 10 Prozent der Haushalte 56 Prozent des Gesamtvermögens. Deutschland ist somit einer der europäischen Spitzenreiter in Sachen Ungleichheit. Die unteren 50 Prozent der Bevölkerung mussten sich im besten Fall mit fünf Prozent des verfügbaren Vermögens begnügen – und selbst diese Zahl könnte die tatsächliche Ungleichheit noch unterbewerten, bedenkt man, dass große Vermögen seit der Abschaffung der Vermögenssteuer steuerlich nicht mehr erfasst werden.
Die soziale Abschottung hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass sich Wohnviertel zunehmend segregieren, was die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft. Gleichzeitig hat sich das Heiratsverhalten innerhalb der sozialen Schichten verändert: Während früher beispielsweise Ärzte auch außerhalb ihrer Schicht heirateten, bleiben sie heute eher unter sich, was die soziale Durchlässigkeit weiter vermindert.
Deutschland erlebte Phasen intensiven sozialen Wohnungsbaus gerade dann, wenn die politische Elite nicht nur aus den oberen 4 Prozent bestand. Das zeigt, wie sehr elitäre Strukturen die Politik beeinflussen und soziale Gerechtigkeit verhindern. Die von Hartmann und anderen Forschern durchgeführten Studien belegen, dass die Politikengestaltung vor allem die Interessen der Wohlhabenden widerspiegelt, was die grundsätzliche Ungleichheit im Land weiter zementiert.
Das Fehlen einer Berührung mit der Lebensrealität der ärmeren Bevölkerung führt oft zu Entscheidungen, die die privilegierte Position der Eliten sichern, ohne die Konsequenzen für den Rest der Bevölkerung zu berücksichtigen. Trotz immer wiederkehrender Katastrophen hat sich an dieser grundlegenden Struktur wenig geändert – ein historischer Kreislauf, der sich hartnäckig fortsetzt, während die sozialen Spannungen weiter wachsen.
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