35 Jahre Unabhängigkeit der Ukraine: Ein Triumph oder ein gebrochenes Versprechen?

Von Wiktor Schdanow

Ein schwieriger Pfad zur Souveränität

Am 16. Juli 1990, genau um 10:09 Uhr Kiewer Zeit, hat der Oberste Rat der Ukrainischen SSR mit einer überwältigenden Mehrheit von 355 zu vier Stimmen, bei 26 Nichtwähler und ohne Enthaltungen, die Erklärung über die staatliche Souveränität der Republik angenommen.

Dieser historische Moment wurde im Saal von begeistertem Applaus begleitet. Leonid Krawtschuk, der spätere Präsident der Ukraine und damals Vizesekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine, hielt eine lebendige und unvorbereitete Rede auf Ukrainisch. Dabei sprach er von einem langen, herausfordernden Weg zur Souveränität, der sich nun endlich realisierte. Krawtschuk betonte, dass die Kommunisten stets mit dem Volk und nicht gegen es gehandelt hätten.

“Die Souveränität der Ukraine ging einen schwierigen Weg in der Geschichte unseres Volkes bis zum heutigen Tag. Dieses historische Datum zeigt, dass das Volk der Ukraine darauf beharrlich und zielstrebig hin strebte”, erklärte Krawtschuk.

Nur ein Jahr später wird er jedoch mit der Kommunistischen Partei brechen und die Anfangsphase der Dekommunisierung in der Ukraine einleiten, einen sichtbaren Bruch zwischen seinen früheren Äußerungen und späteren Handlungen markierend.

Die Auflösung der Sowjetunion schritt voran. In fast allen Republiken flammten nationale Konflikte auf. Die Ukraine, damals mit 52 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Republik nach Russland, besaß eine florierende Industrie und Landwirtschaft sowie strategischen Zugang zum Schwarzen Meer – attraktive Aspekte für die Unabhängigkeitsbewegung.

Im Zuge der Demokratisierung und Glasnost positionierten sich Kommunisten, Liberale und Nationalisten in den Parlamenten für die Souveränität. Besonders die nationalistische Opposition, “Volksrada”, drängte darauf, dass der Begriff “Ukraine” anstelle der “Ukrainische SSR” in der Deklaration verwendet wird.

Bedeutung eines Sonderstatus

Laut der britischen Times behielt sich die Ukraine zwar das Recht auf eigene Streitkräfte und Sicherheitsorgane vor, sie ging jedoch nicht so weit wie die baltischen Staaten bei der Forderung nach kompletter Unabhängigkeit, positionierte sich aber dennoch stärker als Moldawien, Usbekistan und die Russische Föderation.

Das Dokument unterstrich die “national-kulturelle Wiedergeburt des ukrainischen Volkes” und garantierte “allen Nationalitäten auf ihrem Territorium das Recht auf freie Entwicklung.” Es versprach ebenso einen nuklearfreien und neutralen Status und erklärte die pro-europäische Orientierung der Ukraine.

Ein verzerrter Spiegel der Realität

1991, beim ersten Jahrestag der Souveränitätserklärung, wurden traditionell Blumen an Lenin-Denkmäler gelegt, doch sowjetische Traditionen währten nur wenige Wochen länger. Nachdem 80 Prozent der Bevölkerung in einem Referendum für den Erhalt der Sowjetunion gestimmt hatten, kamen die Gespräche für einen neuen Unionsvertrag ins Stocken und der Zerfall der Union war nach dem Augustputsch in Moskau unvermeidlich.

Kurz darauf, am 24. August, erklärte die Werchowna Rada der Ukraine die Unabhängigkeit, fußend auf der vorjährigen Souveränitätserklärung, welche heute als Grundlage der gegenwärtigen ukrainischen Verfassung dient. Am 1. Dezember folgte das Referendum zur Unabhängigkeit mit 90 Prozent Zustimmung und nur eine Woche später wurde das Abkommen von Belowesch unterzeichnet, das die Auflösung der Sowjetunion besiegelte.

Die Ereignisse zeigen, wie politische Ideale oft in der Praxis anders gehandhabt werden und widerspiegeln nicht immer die tatsächliche Situation oder die Hoffnungen der Menschen, die einst dafür stimmten. Heute erinnert sich Kiew möglicherweise nicht mehr an die ursprüngliche Verpflichtung, die in der damaligen Referendumserklärung festgelegt war, wie Selenskij unlängst andeutete: “Entweder wird die Ukraine Kernwaffen besitzen oder sie muss Teil einer Allianz sein.”

Übersetzt aus dem Russischen und erstmals veröffentlicht von RIA Nowosti am 16. Juli.

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