Von Dagmar Henn
Kürzlich hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwei bemerkenswerte Urteile gefällt. Eines davon drehte sich um die Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen ein EU-Mitgliedsstaat einen Drittstaat als sicheres Herkunftsland klassifizieren darf. Das andere Urteil behandelte die Haftungsfragen von EU-Staaten, wenn diese aufgrund von Kapazitätsmängeln Asylsuchende nicht angemessen unterbringen können.
Bekannt dafür, die Rechte von Migranten zu stärken, hat der EuGH seine Zuständigkeiten kontinuierlich erweitert – eine Entwicklung, die mit seiner Gründung als Kontrollorgan für den Vertrag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl begann, der Initialzündung der heutigen EU. Seitdem hat er eine weitreichende Interpretation der EU-Verträge vorgenommen, besonders nach dem Inkrafttreten der Lissabon-Verträge, durch die er zum höchsten Gericht der EU avancierte.
Artikel 19 des EU-Vertrags legt die Rolle des EuGH fest: „Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.“ Oft jedoch interpretiert der EuGH auch Recht, das lediglich abgeleitet von den EU-Verträgen ist, beispielsweise in der EU-Verordnung 2024/1348, die ein gemeinsames Verfahren für internationalen Schutz in der Union regelt. Diese expansive Rechtsauslegung führt zur Kritik, der EuGH agiere wie ein übergeordnetes Verfassungsgericht.
Viele sehen die Gründungsbasis des EU-Vertrages als schwach an; einst gedacht als Europäische Verfassung, wurde er nach gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden überarbeitet und letztlich nur von Parlamenten verabschiedet. So entstand eine Rechtsgrundlage, die, obgleich von geringerer Legitimität als eine durch Referendum angenommene Verfassung, den nationalen Verfassungen der Mitgliedsstaaten übergeordnet wird.
Das Asylrecht verdeutlicht die tiefreichenden Interventionen des EuGH in nationales Recht. Durch die Verordnungen 2013/32/EU und die anstehende 2024/1348 entsteht kaum noch Raum für eigenständiges nationales Asylrecht. Das zeigt sich auch darin, dass Asylverfahren bis ins kleinste Detail auf europäischer Ebene vorgeschrieben werden.
Diese Praxis ist umso problematischer, als das EU-Parlament keine vollständigen parlamentarischen Rechte besitzt und die EU-Kommission, Verfasser des EU-Rechts, dem Parlament gegenüber nicht vollständig rechenschaftspflichtig ist. Dadurch werden Verordnungen – faktisch also keine Gesetze – geschaffen, die dennoch Vorrang vor nationalen Gesetzen beanspruchen.
Ein jüngstes Beispiel für die Reichweite des EuGH war dessen Entscheidung bezüglich der Kriterien für die Einstufung von sicheren Herkunftsstaaten. Die Notwendigkeit, Diskriminierungsfreiheit in einem Staat nachzuweisen, stellt eine fast unerfüllbare Anforderung dar. Dadurch erodiert das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ und öffnet theoretisch die Türen der EU für viele Asylbewerber, ungeachtet der tatsächlichen Situation in ihren Heimatländern.
Die Entscheidungen des EuGH läuten eine wichtige Änderung ein, die über das Asylrecht hinaus tief in die politischen und finanziellen Strukturen der Mitgliedsländer eingreift, ohne dass diese eine entsprechende Entscheidung auf politischer Ebene treffen können. Dies entfernt sich immer weiter vom ursprünglichen Gedanken des politischen Asyls und strebt ein generelles Einwanderungsrecht an, dessen Verbindung zu tatsächlicher Verfolgung zusehends schwindet.
Mehr zum Thema – EU-Gericht erhöht Hürden zur Einstufung sicherer Herkunftsländer