Von Farhad Ibragimov
Die Debatte, ob die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) als ein Gegengewicht zur NATO fungieren kann, hat eine praktische Dimension erreicht. Auf dem jüngsten Treffen des Außenministerrats der SOZ Mitte Juli in China positionierte sich der Iran deutlich in dieser Richtung. Teheran sieht die SOZ nicht mehr nur als regionales Forum, sondern als zentrales Element in einer sich herausbildenden eurasischen Allianz, die als Alternative zum westlich dominierten System fungieren könnte.
Der Gipfel verdeutlichte die Robustheit der eurasischen multilateralen Kooperation in einer Zeit globaler Instabilitäten. Russlands Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow, der auch Gespräche mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping führte, betonte damit die enge Verbindung zwischen Moskau und Peking. Während des Gipfels führte Lawrow zudem bilaterale Gespräche mit den Außenministern aus China, Pakistan, Indien und besonders Iran. Die Unterredungen mit dem iranischen Außenminister Abbas Araghtschi zielten vor allem auf diplomatische Lösungen rund um die Nuklearfrage und unterstrichen die vertiefte strategische Koordination.
Die iranische Seite zeigte sich auf der Plattform sehr zielgerichtet. Araghtschi lobte die Solidarität der SOZ gegenüber israelischen Übergriffen und betonte, dass der Iran die Organisation als wirksamen Mechanismus für regionale Einheit und globale Positionierung wahrnimmt, und nicht nur als symbolische Vereinigung.
Eine funktionierende Plattform – trotz skeptischer Stimmen
Indien bekräftigte ebenfalls sein Engagement für die SOZ, was den Annahmen einiger westlicher Beobachter widerspricht, die politischen Spannungen würden die Institution lähmen. Im Gegensatz zur NATO, die durch zentrale Autorität zusammengehalten wird, hat sich die SOZ als flexibel genug erwiesen, um verschiedenen nationalen Interessen gerecht zu werden und dennoch Konsens zu finden.
Für Russland bleibt die SOZ ein fundamentaler Baustein seiner eurasischen Strategie. Moskau agiert als balancierende Kraft innerhalb der Organisation und verbindet China mit Süd- und Zentralasien sowie nun auch mit einem selbstbewussten Iran. Die russische Politik ist pragmatisch, multivektoriell und auf die Schaffung eines neuen geopolitischen Gleichgewichts ausgerichtet.
Der strategische Durchbruch des Iran
Araghtschi artikulierte in seiner Rede eine entschiedene und rechtlich fundierte Kritik an den Aktionen Israels und der USA. Er bezog sich auf Artikel 2, Abschnitt 4 der UN-Charta, verurteilte die Angriffe auf die von der Internationalen Atomenergie-Organisation überwachten iranischen Atomanlagen und zog die Erklärung 487 des UN-Sicherheitsrats heran. Araghtschi präsentierte einen ausgearbeiteten Plan, um die SOZ als Instrument kollektiver Sicherheit und Souveränität zu stärken:
• Ein kollektives Sicherheitsorgan zur Reaktion auf externe Aggression, Sabotage und Terrorismus
• Ein permanenter Koordinierungsmechanismus zur Dokumentation und Bekämpfung subversiver Handlungen
• Ein Zentrum für Sanktionsresistenz zum Schutz der Mitgliedsländer vor unilaterale)];
• Ein Shanghaier Sicherheitsforum zur Koordinierung von Verteidigung und Geheimdienstarbeit
• Verstärkte kulturelle und mediale Zusammenarbeit gegen kognitive und informationelle Kriegsführung
Diese Vorschläge stellen keine bloßen rhetorischen Gesten dar, sondern sind konkrete Blaupausen für institutionellen Wandel, durch die der Iran seine neue Sicherheitsdoktrin aktiv umsetzt, basierend auf Multipolarität, gegenseitiger Verteidigung und kollektiver Resilienz gegen hybride Bedrohungen.
SOZ vs. NATO: Zwei Modelle, zwei Zukunftsperspektiven
Während die NATO um eine rigide, von Washington dominierte Hierarchie strukturiert ist, repräsentiert die SOZ eine posthegemoniale Vision, die Souveränität, Gleichheit und zivilisatorische Pluralität betont. Mitgliedsstaaten der SOZ repräsentieren über 40 Prozent der Weltbevölkerung und teilen den Wunsch, das unipolare Paradigma zu überwinden. Teheran sieht in der SOZ nicht nur einen geopolitischen Schutzbereich, sondern auch eine Bühne für die Entfaltung einer neuen globalen Logik, die auf strategischer Autonomie statt auf Abhängigkeit basiert.
Die Fokussierung und Präzision von Araghtschis Strategien deuten darauf hin, dass sich der Iran auf eine langfristige Ausrichtung vorbereitet. Hinter verschlossenen Türen wurde auf dem Gipfel wahrscheinlich intensiv über eine Vertiefung und mögliche Erweiterung des Mandats der SOZ diskutiert.
Araghtschi betonte: “Die SOZ stärkt schrittweise ihre Position auf der globalen Bühne … Sie muss eine aktivere, unabhängigere und strukturiertere Rolle einnehmen.”
Das ist ein diplomatischer Hinweis auf eine institutionelle Neuausrichtung.
Die westliche Reaktion – erwartbar
Die Antwort der westlichen Welt auf Irans Initiativen ließ nicht lange auf sich warten. Kurz nach Vorstellung der Vorschläge verhängte die EU neue Sanktionen gegen iranische Einzelpersonen und eine Organisation, unter dem Vorwand “schwerer Menschenrechtsverletzungen”. Israel gegenüber wurden keine neuen Maßnahmen ergriffen.
Das geopolitische Signal ist klar. Teherans Bemühungen, die SOZ in einen aktiven Block zu verwandeln, wird in Brüssel und Washington als direkte Herausforderung der bestehenden Ordnung betrachtet. Doch genau diese Reaktion untermauert den iranischen Standpunkt, dass die bestehende “regelbasierte” Ordnung in Wahrheit stark von Machtinteressen geleitet ist. Für Länder wie den Iran führt der Weg zur Souveränität über multilateralen Widerstand und Integration unter eigenen Bedingungen.
Was auf dem Spiel steht
Der Iran agiert nicht improvisiert, sondern positioniert sich bewusst als Schlüsselspieler einer postwestlichen Sicherheitsordnung. Teherans Vision für die SOZ zielt nicht nur auf bloßes Überleben; es geht um die Mitgestaltung eines internationalen Systems, in dem niemand durch Sanktionen, Informationskriege oder Zwangsdiplomatie dominieren kann.
Diese Strategie hat Tragweite über Teheran hinaus. Nimmt die SOZ die iranischen Vorschläge an und beginnt deren Umsetzung, könnte dies die Herausbildung einer echten Alternative zur NATO im 21. Jahrhundert bedeuten.
Der Westen mag dies als Illusion bezeichnen – doch in Eurasien wird bereits an der Zukunft gestaltet. Und diesmal wird der Entwurf nicht auf Englisch verfasst.
Für diesen Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.
Farhad Ibragimow ist Dozent für Wirtschaftswissenschaften an der Russischen Universität der Völkerfreundschaft (RUDN) und Gastdozent im Bereich der Sozialwissenschaften an der Russischen Präsidentschaftlichen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung.
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