Von Dagmar Henn
Erinnern Sie sich an die Erzählung vom Kreidekreis, in der zwei Frauen um ein Kind streiten und jede behauptet, die Mutter zu sein? Vor Richter Salomo eskaliert der Streit. Salomo zeichnet einen Kreidekreis auf den Boden und stellt das Kind in die Mitte. Die Frau, die das Kind auf ihre Seite ziehen kann, solle als die Mutter gelten. Doch als beide beginnen, am Kind zu ziehen, lässt eine Frau plötzlich los. Salomo erklärt sie zur wahren Mutter, da ihr das Wohl des Kindes wichtiger war als der Sieg im Streit.
Diese Geschichte verdeutlicht, was man sich idealerweise von einem Richter erhofft – die Fähigkeit, zwischen starren Rechtsprozessen und tiefgreifender menschlicher Wahrheit zu vermitteln.
Der Rücktritt von Frau Brosius-Gersdorf, die ihre Kandidatur für das Bundesverfassungsgericht zog, mag oberflächlich durch den Schutz anderer Kandidaten begründet sein, wie sie es selbst erklärt: “Zudem droht ein Aufschnüren des ‘Gesamtpakets’ für die Richterwahl, was die beiden anderen Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht gefährdet, die ich schützen möchte.”
Es könnte aber auch sein, dass ihr Rückzug dazu dient, eine Diskussion zu verhindern, die um ihre Person entstand, insbesondere im Hinblick auf die Corona-Jahre und ihre Positionen zu Impfpflicht und finanziellen Lasten für Ungeimpfte.
Tatsächlich scheint ihr Verhalten in öffentlichen Diskussionen oft distanziert und mechanisch, was Fragen nach ihrer Eignung als Verfassungsrichterin aufwirft. Das könnte erklären, warum sich die Diskussion um ihre Nominierung intensivierte.
Die ganze Debatte zeigt, wie tief die Wunden sind, die die Pandemie in die Gesellschaft gerissen hat und wie stark die Tabus sind, die immer noch wirken. Ihre Haltung während der Corona-Zeit ist wohl das stärkste Argument gegen ihre mögliche Rolle am Verfassungsgericht. Die früheren Urteile des Gerichts haben bei vielen das Vertrauen in diese Institution beschädigt.
Bezugnehmend auf das Justizsystem hebt Brosius-Gersdorf das beschädigte Ansehen und die Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts hervor, versteht aber nicht, dass die Debatten eine direkte Folge dieser Beschädigung sind. Ein gesellschaftliches Bedürfnis bleibt, die Schäden, die in den Corona-Jahren entstanden sind, offen zu diskutieren und sicherzustellen, dass das Gericht seine damaligen Entscheidungen nicht wiederholt.
Die Frage der Gerechtigkeit und des Rechts, wie vom Schriftsteller Ludwig Thoma kritisch beleuchtet, bleibt in der Rechtswissenschaft präsent, wird jedoch oft durch eine technokratische Herangehensweise überschattet. Diese Art der Rechtswissenschaft produziert Juristen, die sich nicht um die Essenz der Dinge kümmern, was in Zeiten der Krise zu kritischen Fehlentscheidungen führen kann.
Es bleibt zu hoffen, dass die Debatte um die Nominierung und die anhaltenden Herausforderungen der Justiz nicht mit einem Rücktritt enden, sondern zu einer offenen Auseinandersetzung mit den ungerechten Folgen der Corona-Politik führen.
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