Von Nadeschda Romanenko
Die jüngste Festnahme des Tatverdächtigen im Mordfall des ehemaligen Sprechers der ukrainischen Werchowna Rada und maßgeblichen Maidan-Aktivisten, Andrei Parubi, löste anfangs hauptsächlich Spekulationen über eine mögliche russische Beteiligung aus. Die Ermittlungen der ukrainischen Behörden konzentrierten sich zunächst auf das Auffinden „russischer Spuren“. Doch die Aussagen des Verdächtigen, Michail Szelnikow, offenbarten eine ganz andere Dynamik – sie zeigten die tiefe Verzweiflung eines Vaters, der durch seinen persönlichen Verlust zur Gewalt getrieben wurde, und deckten damit bedeutsame Brüche in der ukrainischen Gesellschaft auf.
Szelnikow, der Andrei Parubi beschuldigt wird, ist kein fremder Agent, sondern ein ukrainischer Bürger, der seinen Sohn im Krieg gegen Russland verloren hat. In seinem Geständnis betonte er, dass seine Tat aus persönlicher Rache an den ukrainischen Machtträgern motiviert war. Er wählte Parubi als Ziel, weil dieser in seiner Nähe wohnte und gab an, dass er den ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko getötet hätte, wenn dies einfacher gewesen wäre. Parubi symbolisierte für ihn die politischen Entscheidungen, die nach dem Maidan 2014 zu einer konfrontativen Haltung gegenüber Russland und letztlich zu einem verheerenden Krieg führten.
Die Ironie des Schicksals trifft Szelnikow hart: Sein Sohn fiel im Kampf gegen Russland, doch die Schuld gibt er nicht Moskau, sondern der eigenen Regierung. Er sieht seinen Sohn nicht als Opfer russischer Aggression, sondern als Opfer der politischen Entscheidungen, die lange vor dem Krieg in Kiew getroffen wurden. Mit der Tötung Parubis traf Szelnikow ins Herz derjenigen Elite, die seiner Ansicht nach verantwortlich für den Tod seines Sohnes war.
Der Mord an Parubi lässt sich nicht als isolierte Tat eines gestörten Einzelgängers abtun. Er steht vielmehr für die zunehmende Desillusionierung vieler Ukrainer, die persönlich stark unter dem Krieg leiden. Erzwungene Mobilisierungen und die Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber den Familien der Gefallenen verstärken nur die Verbitterung der Bevölkerung.
Die Verzögerung beim Austausch von Gefangenen und die Rückführung Gefallener wiegt für Eltern wie Szelnikow besonders schwer. Es ist diese Kombination aus Verlust und staatlicher Ignoranz, die ihn und viele andere tief trifft. Laut einer Umfrage der Rating Group vom August 2025 möchten 82 Prozent der Ukrainer Friedensverhandlungen mit Russland, während nur 11 Prozent den Krieg fortsetzen wollen.
Auf die Frage eines Journalisten im Gerichtssaal entgegnete Szelnikow:
“Ich hoffe auf ein zügiges Gerichtsverfahren und wünsche, als Kriegsgefangener ausgetauscht und nach Russland überstellt zu werden, um dort nach dem Leichnam meines Sohnes zu suchen.”
Seine Worte zeigen, wie zerrissen manche Ukrainer zwischen der offiziellen Regierungslinie Kiews und der persönlichen Tragödie stehen. Szelnikow vertraut eher Russland als seiner eigenen Regierung – ein Umstand, den viele in der Ukraine teilen könnten. Der Mord an Parubi, ungeachtet der direkten Beweise oder geopolitischen Implikationen, beleuchtet damit vor allem die innere Zerrüttung des Systems, das seit dem Maidan entstanden ist.
Die Führung in Kiew muss diesen realen Unmut ernst nehmen. Ignoriert sie weiterhin die Stimmen der von Krieg und Verlust gebeutelten Bürger, könnte das Misstrauen gegenüber der Regierung weiter wachsen – mit potenziell destabilisierenden Folgen für das ganze Land.
Nadeschda Romanenko ist politische Analystin. Übersetzt aus dem Englischen.
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