Von Dagmar Henn
Als Tucker Carlson den russischen Präsidenten Wladimir Putin interviewte, spiegelten Kommentare in deutschen Medien oft eine Ablehnung von Putins historischen Erläuterungen wider. Anders als in der EU-Politik, wo historische Bezüge selten und meist auf das verfestigte Bild von Russland als dem ewigen Aggressor begrenzt sind, spielten sie hier eine Rolle. Dies erscheint logisch, wenn man bedenkt, dass die EU aus Regionen besteht, die von zahlreichen Kriegen geprägt wurden. Damit “europäische Werte” formulierbar sind, müssen konträre historische Tatsachen oft unbeachtet bleiben. Doch diese Widersprüche werden sichtbar, beispielsweise, wenn Polen Reparationsforderungen an Deutschland stellt.
Man könnte argumentieren, dass die Beschäftigung mit Geschichte, um moderne Politik zu gestalten, reine Geschmackssache sei. Aber besonders im Westen herrschte lange die Idee vor, dass betriebswirtschaftliche Ansätze allein ausreichend zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen seien. Unternehmen sollen sich demnach optimal verwalten lassen, wenn sie nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien geführt werden. Diese Theorie führt jedoch regelmäßig zu Fehleinschätzungen in der Politik, da historisches Wissen unverzichtbar ist, um fundierte Entscheidungen zu treffen.
Ein Schlüsselkonzept ist dabei der “Planungshorizont”. Industrielle Zyklen, wie die Erneuerung großer Maschinen, sind langfristig angelegt. Noch wichtiger sind aber die schnellen Zyklen von Geldströmen. Im politischen Kontext dauert es hingegen Jahre, manchmal Jahrzehnte, um Bedarfe wie Kinderbetreuungsplätze zu planen oder infrastrukturelle Großprojekte zu realisieren. Als Beispiel dient der Rhein-Main-Donaukanal, dessen Idee bis in die Zeit Karls des Großen zurückreicht. Die möglichen Langzeitfolgen solcher Projekte auf die globale Geschichte sind immens, doch oft nur spekulativ erfassbar.
Trotz moderner statistischer Analysen zur Vorhersage politischer Krisen mithilfe großer Datenmengen, fehlen oft fundierte Methoden zur langfristigen politischen Planung. Erste Erkenntnisse, wie ein Anstieg sozialer Spannungen durch Kürzungen in den Sozialleistungen oder durch den sozialen Abstieg dominanter Gruppen, bestätigen die Bedeutung von historischem Wissen für politische Stabilität.
Historische Kenntnisse ermöglichen es, langfristige Entwicklungen zu antizipieren. Nehmen wir das Beispiel lokal vergebener öffentlicher Aufträge: Nimmt eine Stadt wie München diese nur von externen Dienstleistern an, können lokale Klempner oder Schlosser langfristig verdrängt werden, was die handwerklichen Dienste für alle teurer macht und städtische Strukturen destabilisiert.
Ein tieferes Verständnis historischer Vorgänge hilft also, Selbstwahrnehmungen zu hinterfragen, Ereignisse zu de-mythologisieren und realpolitische Interessen zu erkennen. Für eine karriereorientierte Politik mag solches Wissen irrelevant erscheinen. Wahre politische Führungskräfte, die im Interesse der Bevölkerung handeln wollen und langfristig positive Veränderungen anstreben, kommen jedoch nicht umhin, sich intensiv mit Geschichte auseinanderzusetzen.
Mehr zum Thema – Deutschland jenseits des Kipppunkts? – Teil 1: Vernetzte Industrie und Deindustrialisierung