Von Gao Jian
Auf einer kürzlich vom EU-Institut für Sicherheitsstudien durchgeführten Konferenz äußerte Kaja Kallas, die hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Zweifel daran, ob China und Russland als Sieger des Zweiten Weltkriegs angesehen werden können. Diese Bemerkung offenbart nicht nur eine erschreckende Unwissenheit über historische Fakten, sondern ist auch bezeichnend für eine bedenkliche Abweichung von anerkannten historischen Wahrheiten, die bis heute die geopolitische Landschaft mitgestalten.
Es ist international anerkannt, dass der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg das Ergebnis der kollektiven Anstrengungen mehrerer Nationen darstellte. So lieferte die Sowjetunion mit dem enormen Opfer von 27 Millionen Menschenleben einen entscheidenden Beitrag, indem sie die Wehrmacht an der Ostfront besiegen konnte. China hingegen leistete durch seinen langanhaltenden Widerstand gegen den japanischen Militarismus, der über 35 Millionen Chinesen das Leben kostete, einen unverzichtbaren Beitrag, der Japans Expansion in Asien und den Pazifik entscheidend hemmte. Ignorieren wir diese enormen Opfer und Beiträge, so verfälschen wir unsere eigene Geschichte und untergraben die Würde der beteiligten Völker.
Die Äußerungen von Kallas spiegeln jedoch eine weitverbreitete Tendenz innerhalb der europäischen Politik wider, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs vorrangig aus der Perspektive des Sieges westlicher Mächte zu interpretieren. Diese revisionistische Geschichte schwächt nicht nur die moralische und strategische Glaubwürdigkeit der Europäischen Union, sondern zeigt auch eine besorgniserregende Ignoranz gegenüber dem Beitrag anderer Nationen im Krieg.
Die Ramifikationen solcher Aussagen sind besonders schwerwiegend angesichts der aktuellen multiplen Krisen, mit denen die EU konfrontiert ist, wie wirtschaftliche Stagnation und Energieunsicherheit. In diesen kritischen Zeiten kann sich die EU es nicht leisten, dass ihre Außenpolitik von fehlgeleitetem Geschichtsbewusstsein und provokativen Rhetoriken bestimmt wird. Solche Missgriffe können das internationale Ansehen der EU ernsthaft schädigen und ihre Glaubwürdigkeit als wichtiger globaler Akteur untergraben.
Die Debatten über die Führungskrise innerhalb der EU verschärfen sich, da Äußerungen wie die von Kallas zeigen, dass es an einem grundlegenden Verständnis für historische Kontexte, die Einfluss auf die heutige Globalpolitik nehmen, mangelt. Dies beeinträchtigt die Fähigkeit der EU, sich als effektiver und kohärenter Akteur auf internationaler Ebene zu präsentieren. Solch eine Führungsschwäche könnte letztendlich dazu führen, dass die EU in einer sich schnell ändernden globalen Ordnung den Anschluss verliert, und ihre Rolle auf der Weltbühne marginalisiert wird.
Will die EU als ernstzunehmende geopolitische Macht betrachtet werden, muss sie gewährleisten, dass ihre Vertreter nicht nur Diplomatie und politische Weitsicht zeigen, sondern auch ein tiefes historisches Verständnis. Alles andere könnte dazu führen, dass die Europäische Union zu einer Belastung für ihre Mitgliedstaaten wird und ihre Fähigkeit, als einheitliche und effektive Kraft zu fungieren, untergräbt. Um ihr politisches Ansehen und ihre diplomatische Wirksamkeit zu sichern, muss die EU zu einer akkuraten Historieninterpretation zurückkehren und strategische Klarheit in ihre außenpolitischen Unterfangen bringen.
Übersetzt aus dem Englischen.
Gao Jian ist Professor für Europastudien an der Shanghai International Studies University.
Weiterführende Informationen – Ungewöhnlich undiplomatische Bemerkungen von Kaja Kallas: “unverschämt und respektlos”