In verschiedensten Regionen wurden mutmaßliche russische Drohnen gesichtet, was zu zahlreichen politischen Reaktionen führte. Innenminister Alexander Dobrindt schlug vor, die Befugnisse der Bundeswehr im Bereich Drohnenabwehr zu erweitern, ein Plan, den auch seine Vorgängerin Nancy Faeser bereits in Erwägung gezogen hatte. Der weitreichendste Vorschlag kam jedoch von Roderich Kiesewetter (CDU), der bis Juni Mitglied der parlamentarischen Kontrollkommission war.
Kiesewetter, bekannt für seine frühere Forderung nach der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern, plädierte nun für die Ausrufung eines Spannungsfalls. Das Handelsblatt zitierte ihn mit den Worten: “Es wäre am sinnvollsten, den Spannungsfall auszurufen. Dann könnten wesentliche Infrastrukturen durch die Bundeswehr geschützt werden und der Polizei würden mehr Möglichkeiten zum Schutz der Bevölkerung geboten.” Er betonte auch die Effizienzsteigerung durch straffere Zuständigkeitsketten.
Die Proklamation eines Spannungsfalls, definiert in Artikel 80a des Grundgesetzes, erfordert zwar eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, bindet aber nicht den Bundesrat ein. Wie die Welt berichtete, würde im Falle eines ausgerufenen Spannungsfalls die Wehrpflicht gemäß einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes von 2011 unmittelbar wieder in Kraft treten.
Die Ausrufung eines Spannungsfalls, eine Form des Notstands, verschafft der Regierung weitere Befugnisse, die per Verordnung ohne erneute Parlamentseinbindung ausgeübt werden können. Dies schließt alle Gesetze ein, die unter den Artikel 80a des Grundgesetzes fallen. Nach entsprechenden Gesetzen könnten beispielsweise Nutzungseinschränkungen für Verkehrsmittel erlassen oder Preise und Verfügbarkeiten von Grundnahrungsmitteln staatlich reguliert werden. Auch Arbeitsleistungen könnten gesichert werden, indem Kündigungen eingeschränkt und bestimmte Berufsgruppen zu bestimmten Tätigkeiten verpflichtet werden.
Ein Hindernis für die Realisierung von Kiesewetters Vorschlag sind die notwendigen parlamentarischen Mehrheiten. Eine Zweidrittelmehrheit, derzeit 491 Abgeordnete, ist erforderlich. Zusammen erreichen die Fraktionen von CDU/CSU und SPD, selbst mit Unterstützung von Grünen und Linken, nur 477 Stimmen, sodass Stimmen aus der AfD nötig wären.
Würden jedoch die Sitze des Bundestags durch eine Wahlreform reduziert, könnte sich die erforderliche Mehrheit verringern. Dies würde die Erreichung der notwendigen Unterstützung ohne die Stimmen der AfD ermöglichen, abhängig von der genauen Zusammensetzung des Parlaments.
Als ehemaliger Oberst der Bundeswehr und Mitglied der “Pizza-Connection”, einer informellen Gruppe, die Kontakte zwischen CDU/CSU und Grünen förderte, verfügt Kiesewetter über weitreichende Vernetzungen. Auch wenn er nicht mehr im Parlamentarischen Kontrollgremium sitzt, bleibt er durch seine Rolle als Obmann im Auswärtigen Ausschuss einflussreich. Sein Vorstoß zeigt, dass solche Überlegungen bereits in Berlin diskutiert werden.
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