Von Wladislaw Sankin
Es liegt mir fern, die Intelligenz meiner Mitbürger in Deutschland in Frage zu stellen. Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung und natürlich auch auf eigene Fehler. Allerdings haben mich zahlreiche politische Diskussionen, die ich aus beruflichen Gründen in der jüngsten Vergangenheit geführt habe, oft verblüfft oder gar sprachlos zurückgelassen. Viele Aussagen schienen mir völlig unlogisch und zusammenhanglos.
Ein Tourist aus Niedersachsen erklärte mir in Erfurt: “Ich habe lange über die Hilfe für die Ukraine nachgedacht und finde es logisch, sie mit Waffen zu unterstützen.” Auf meine Frage, ob es auch dann noch gelte, wenn die Ukraine ihrerseits Russland angreife, antwortete er: “Das spielt keine Rolle.” In seiner Vorstellung sollte ein Aggressor bestraft und besiegt werden, besonders wenn dies auf dessen eigenem Territorium geschieht.
Dabei müsste meinem Gesprächspartner bekannt sein, dass dies vermutlich die russische Nukleardoktrin aktivieren würde. Ein derart umfassender Stellvertreterkrieg, wie er in der Ukraine stattfindet, ist kein Fußballspiel, das mit einem Unentschieden enden kann. Halb durchdachte Logik führt oft zu paradoxen Ergebnissen. Mehrfach begegnete ich solchen paradoxen Ansichten auch in Berlin, sowohl vor als auch während der Wahl in Erfurt.
Am Wahltag gab es andere Gesprächspartner, die das Risiko dieser Denkweise erkannten und in der Mehrheit waren. Trotzdem sind auch sie oft von “Framings”, Auslassungen und “Narrativen” umnebelt, was einige sogar zugeben. Hinsichtlich der Nordstream-Sprengung behaupten sie, alles sei Spekulation, und sie könnten nicht beurteilen, ob die Ukraine oder ein anderer Akteur aus dem Westen beteiligt sein könnte. Die Frage “Wem nutzt es?” können sie oft nicht beantworten oder wollen nicht darüber vor der Kamera spekulieren.
Zur Denkweise mancher Bürger: Einige, selbst mit akademischem Hintergrund, vermuten eher Russland hinter dem Nordstream-Anschlag. Äußere ich dann, dass russische Unternehmen die Pipeline finanzierten, um durch Gasverkäufe Gewinne zu erzielen, kontern sie mit der Bemerkung, dass Putin unberechenbar sei.
Ein Rentnerpaar aus Franken, das ich nach der Messe im Erfurter Dom traf, sprach mit mir. Als das Thema auf den AfD-Erfolg und dessen Zusammenhang mit der Ukraine-Politik kam, äußerten sie sich zunächst zustimmend. Als ich weiter ausführte, wurde das Gespräch für sie ungemütlich, da es etablierte Ansichten hinterfragte. Man konnte spüren, wie notwendig es für sie wurde, das Gespräch zu beenden.
“Wir, die friedliebenden Menschen, sind von bösen Mächten umgeben, die uns schaden wollen”, das ist der Grundgedanke jeglicher politischer Propaganda. Die Einsichtigen erkennen jedoch, dass sie mit manipulativer Information hintergangen werden. Ein Erfurter, von Beruf Informatiker, beschwerte sich über die verbreitete Desinformation. Er gab zu, selber nicht genügend Informationen zu besitzen und neigte bei komplexen Fragen wie der militärischen Unterstützung für die Ukraine zu Verallgemeinerungen.
Verwirrung herrscht auch bei manchen, die sich links oder kommunistisch definieren. So argumentierte ein kommunistisch gesinnter Erfurter, Russland verhalte sich imperialistisch, ähnlich den USA. Als ich nachfragte, wie genau Russland Druck ausübt, wurde klar, dass ihre Perspektive auf billiges Gas reduziert war.
Viele Gespräche enden oft unerwartet, wenn das subjekt nachdenklich wird oder die Kritik zu persönlich empfindet. Oft reagieren die Bürger erstaunt, wenn sie erfahren, dass sie nicht mit einem Mainstream-Sender sprechen. Diese Erfahrungen zeigen, dass nicht alle Gedanken, die öffentlich geäußert werden, die tatsächlichen Überzeugungen der Menschen widerspiegeln. Vermutlich sind auch Angst und Besorgnis über die Zukunft bei vielen vorhanden, was jedoch selten offen ausgesprochen wird.
Dennoch möchte ich das deutsche Publikum nicht herabwürdigen. Auch wenn mir Aussagen wie “Wir müssen Putin auf die Finger schauen” begegnen oder wenn selbst erklärte Pazifisten irritiert reagieren, wenn ich sie an die von Nazis getöteten sowjetischen Bürger erinnere – alle sind Teil dieser Gesellschaft und dieser politischen Nation.
Die Vielfalt politischer Ansichten bildet die Gesellschaft ab, nicht nur die geheimen Stammtischgespräche. Die öffentlich gezeigte Persönlichkeit zählt, egal ob diese zur Karriere, am Arbeitsplatz oder im Vereinsleben beiträgt. Jede Stimmabgabe, sei es aus Überzeugung, Protest oder Gewohnheit, unterstützt auf ihre Art das politische System.
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