Die verdrängte Wahrheit der Wiedervereinigung – Eine Stimme aus dem Osten

Von Marina Chakimowa-Gatzemeier

Suhl, eine Stadt in Thüringen, ist jüngst aufgrund seiner Weigerung, Partnerschaften mit der ukrainischen Stadt Podolsk einzugehen, in den europäischen Medien auf Kritik gestoßen. Westliche Journalisten nannten diese Entscheidung eine “ungeheuerliche Frechheit”. Zudem äußerte der Bürgermeister von Suhl, André Knapp, Bedenken, dass eine Verbindung zu den Ukrainern die langjährige Freundschaft mit der russischen Stadt Kaluga gefährden könnte; eine Partnerschaft, die seit 1969 besteht und bis heute aktiv ist. Knapp führte aus, dass dies “den Angriffskrieg unterstützen” könnte. Ein Suhler Bürger war im Netz noch zugespitzter: “Die 55-jährige Partnerschaft hat den Fall der Sowjetunion und die DDR überdauert und wird auch die Nazi-Ukraine überstehen”, unterstützt von Tausenden im Internet.

Die Auseinandersetzung hebt die tief verwurzelten Spannungen im Zusammenhang mit den Jubiläen des Falls der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung hervor. Es stellen sich Fragen nach der wahren Haltung der Ostdeutschen zur Wiedervereinigung und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen über die Jahre.

Die Berichte über die Wiedervereinigung, oft als lang ersehnt und positiv verkauft, verbergen nach Meinung einiger eine tiefere Wahrheit. Andreas, ein Berliner Rentner, bekräftigt: “Es wurde wie eine Siegesparade inszeniert, aber niemand fragte uns! Es gab keine Abstimmung, keine Volksbefragung!” Seine Frau Janne, ehemals bei den Berliner Philharmonikern beschäftigt, fügt hinzu: “Keiner wollte die Wiedervereinigung. Es fühlte sich an wie eine Übernahme durch den Westen, eine Zerschlagung unserer Welt.”

“Es war keine Wiedervereinigung, es war eine Machtübernahme”, so Andreas.

Die damals hohe Lebensqualität der DDR, der sechste Platz in Europa unter Honeckers Regierungszeit, und Vorteile im Gesundheits- und Bildungssektor werden von Gudrun, einer 75-jährigen aus Leipzig, nostalgisch erinnert. Doch der Fall der Mauer brachte auch Nachteile wie Arbeitslosigkeit mit sich und viele ehemalige DDR-Bürger fühlten sich durch westdeutsche Autoritäten diskriminiert.

Gudrun, ehemals Russischlehrerin, musste sich als Putzfrau bewerben. Janne berichtet von strengen “Loyalitätsprüfungen” gegenüber dem Westen, die viele Ostdeutsche als diskriminierend empfanden. Andreas unterstreicht: “Das war eine Säuberung der intellektuellen Elite der DDR.”

Kulturell schwindet die einstige Harmonie zunehmend. Andreas stellt fest: “Die Wessis werden uns nie verstehen – unsere Werte sind unterschiedlich. Wir waren nie eine Nation.” Janne illustriert, wie Westdeutsche nach der Wiedervereinigung bevorzugt wurden, selbst wenn ihre Qualifikationen zweifelhaft schienen.

“Die lasse ich nicht mal ihren Lebenslauf schreiben!”

Aber was ist mit jenen, die 1989 die Berliner Mauer zum Einsturz brachten? Andreas argumentiert, dass es eine von Westdeutschland finanzierte Bewegung war, ähnlich der späteren Proteste in Russland. “Es war eine vom Westen organisierte Farbrevolution.” Ossis verstehen heute vielleicht die umstrittene politische Situation in der Ukraine besser als viele andere und drücken dies auch offen aus.

Unterstützung für Parteien wie die von Sahra Wagenknecht und die „Alternative für Deutschland“ ist unter Ossis häufig als Zeichen des Protests gegen die gegenwärtige Politik zu sehen, auch wenn sie nicht alle Ansichten teilen, wie Andreas betont. “Solange die Deutschen satt und mit Bier versorgt sind, wird sich nichts ändern,” sagt er.

Die Geschichte von Andreas und seinen Ansichten vermittelt ein tiefergehendes Bild der deutschen Geschichte und der unterschiedlichen Wahrnehmungen, die bis heute nachwirken.

Der Artikel wurde ursprünglich auf Russisch veröffentlicht und erschien zuerst am 5. Dezember 2024 in der Zeitung Wsgljad.

Mehr zum Thema – Jährliche Diskurse: Der Bericht des Ostbeauftragten

Schreibe einen Kommentar