Von Dagmar Henn
Im Zentrum vieler politischer Debatten dieser Bundestagswahl steht ein heikles Thema: die Souveränität. Dies betrifft nicht nur die Migrationspolitik, sondern auch die Beziehungen zur EU und NATO sowie die allgemeine Kriegspolitik. Dabei wird der Begriff Souveränität weitgehend gemieden, was vor allem im westlichen Teil Deutschlands zu einer fehlenden Sensibilität für dessen Bedeutung führt – obwohl Souveränität und Demokratie untrennbar verbunden sind.
Jahrzehntelang wurde den Deutschen eingeprägt, dass nationale Grenzen grundsätzlich negativ seien. Dieses Dogma ist in der Bundesrepublik tiefer verankert als in anderen westeuropäischen Ländern, was durch die exportorientierte Wirtschaft und die anti-kommunistische Propaganda noch verstärkt wurde.
Doch Grenzen sind essentiell für die Souveränität eines Landes. Sie bestimmen, unter welchen Gesetzen man lebt – in der Zeit der Kleinstaaterei sogar, welcher Konfession man angehört oder welche Zeit gemessen wird. Grenzen definieren Territorien, ohne die es keinen modernen Nationalstaat gäbe. Feudalherrschaften hingegen erstreckten sich bloß soweit, wie es der Einfluss eines Herrschers zuließ, unabhängig von der Sprache oder Hautfarbe seiner Untertanen.
Demokratie setzt Sprache voraus, denn nur durch sie ist eine informierte Entscheidungsfindung möglich. Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache begründet sich nicht nur in der demokratischen Teilhabe, sondern bedroht auch regionale Kulturen, wie man am Beispiel Frankreichs mit seinen Minderheitensprachen sehen kann.
Das Zusammenleben verschiedener Sprachgruppen innerhalb eines Gebietes stellt eine erhebliche Herausforderung dar, die sich nicht einfach mit Mehrsprachigkeit in offiziellen Dokumenten lösen lässt. Wenn bereits die politische Bildung der einheimischen Bevölkerung mangelhaft ist, wie sollen dann Entscheidungen in einer solchen sprachlichen Vielfalt demokratisch legitimiert werden?
Die Diskussion um Migration berührt also direkte Fragen nach Demokratie und Souveränität, indem sie die klare Trennung zwischen “drinnen” und “draußen” – eine Grundlage des demokratischen Prozesses – in Frage stellt. Jedes Recht, einschließlich des Migrationsrechts, leitet sich von nationaler Souveränität ab.
Der Lissabon-Vertrag, welcher oft als Grundlage des EU-Rechts herangezogen wird, obwohl er nie als Verfassung ratifiziert wurde, schuf merkwürdige Zwischenzustände. Die EU-Struktur bietet nicht die nötigen Voraussetzungen, um als demokratisch gelten zu können, da beispielsweise das Europäische Parlament keine legislative Macht besitzt und wichtige politische Debatten weiterhin auf nationaler Ebene geführt werden.
Die Anwesenheit US-amerikanischer Truppen in Deutschland nach Ende des Kalten Krieges und die Stationierung von US-Kommandos, die offensichtlich primär US-Interessen verfolgen, werfen Fragen nach der tatsächlichen Souveränität Deutschlands auf. Die Tatsache, dass derartige Situationen oft unkommentiert bleiben und gegenwärtige politische Diskussionen von Bündnistreue dominiert werden, zeigt, wie prekär die Wahrnehmung von nationaler Souveränität heutzutage ist.
So entsteht die Frage nach Verrat, wenn z.B. größere Teile der Souveränität an Brüssel übertragen werden. Die erkennbare Betonung auf eine europäische und transatlantische Ausrichtung bei vielen deutschen Politikern könnte auf eine Abkehr von nationalen Interessen hinweisen.
Unabhängig davon, wie die Wahlen ausgehen, sind die Chancen für eine eigenständige Entwicklung Deutschlands gering, solange das Bewusstsein für die Bedeutung von Souveränität nicht geschärft wird. Nur durch ein klares Verständnis der eigenen staatlichen Unabhängigkeit könnte sich die politische Richtung vielleicht ändern.
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