Von Susan Bonath
Vor gut 30 Jahren schwappte das private Armen-Charity-Modell der USA nach Deutschland: Die ersten Tafeln hatten sich 1993 zum Ziel gesetzt, der steigenden Zahl obdachloser Menschen mit Essen zu helfen, das sonst weggeworfen werden würde. Ihr ehrenamtlicher Charakter ist geblieben, doch sind sie längst zu einem bundesweit agierenden Unternehmen geworden, das schleichend den Sozialstaat zu ersetzen droht. Und wer denkt, ein Tafelgang koste nichts, der irrt: Die Inflation treibt auch dort die Preise in die Höhe.
Wie in dieser Woche der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) berichtete, verhängen nicht nur immer mehr Tafeln Aufnahmestopps, weil sie vom Massenandrang völlig überlastet sind. Auch die Preise schnellen dort wie im Rest der Bundesrepublik zusehends in die Höhe. Wer also völlig pleite ist, hat auch bei der Tafel keine Chance auf einen vollen Magen.
Teure aussortierte Lebensmittel
Dem Bericht zufolge verlangt die Tafel im sachsen-anhaltischen Zerbst inzwischen vier Euro für eine warme Mahlzeit, die sie von montags bis freitags ausgibt. Zum Vergleich: Der Regelsatz des Bürgergeldes enthält 195 Euro für Nahrungsmittel pro Monat für eine alleinstehende Person. Das sind rund 6,50 Euro für jeden Tag.
Eine Kiste Lebensmittel ist sogar noch teurer, sie kostet in Zerbst mittlerweile sieben Euro. Dies variiert von Ort zu Ort. Laut eines früheren MDR–Berichts vom Februar müssen beispielsweise Bedürftige im thüringischen Weimar acht Euro für so ein Essenspaket bezahlen.
Zu bedenken ist, dass es sich in aller Regel um Waren handelt, die Supermärkte, Discounter und andere Geschäfte wegen ablaufender Haltbarkeit oder diversen Qualitätsmängeln als unverkäuflich aussortiert und an die Tafeln gespendet haben. Die Läden müssten diese Lebensmittel eigentlich wegwerfen und sparen sich durch Weitergabe die Kosten der Entsorgung. Auch der Inhalt der Kisten ist nicht immer gleich, sondern variiert sehr stark. Ausgegeben werden kann schließlich nur, was an die Tafeln abgegeben wurde.
Hohe Energie- und Spritkosten
Die Leiterin der Zerbster Tafel, Ute van Tulden, sagte, schuld sei die Inflation, die besonders Energie, Benzin und Nahrungsmittel stark verteuert habe. Zwar steige die Inflation aktuell nicht mehr so stark. Doch die Kosten für die Tafel seien damit nicht gesunken. Sie seien, so van Tulden, “im Gegenteil noch höher durch die Nachzahlungen für Strom, und die Benzinpreise sind erhöht; da wir viel fahren, merken wir das ganz schön”.
In dem Bericht vom Februar heißt es, dass der Aufwand für die Tafeln, um an Essensspenden heranzukommen, immer stärker zugenommen habe. Regionale Geschäfte spendeten nicht mehr genug. Im sächsischen Weißwasser beispielsweise gebe es deswegen mittlerweile ein Zentrallager mit Kühlhaus, wohin Supermärkte größere Mengen dieser unverkäuflichen Lebensmittel liefern.
Das Lager wiederum müsse hohe Mieten und Energiekosten abdrücken. Außerdem seien hauptamtliche Mitarbeiter nötig, die man entlohnen müsse, fügte dessen Leiter Dietmar Haase hinzu. Weil auch die Spenden für die Tafeln dem wachsenden Andrang nicht mehr gerecht würden, müssten die Einrichtungen dies über höhere Preise ausgleichen, bezahlt von den Bedürftigen.
Schleichender Ersatz für Sozialstaat?
Ende 2023 verzeichnete der deutsche Dachverband der Tafeln bis zu zwei Millionen Menschen, die regelmäßig um Essen anstehen. Laut Statistischem Bundesamt lebten 2022 in Deutschland 14,7 Millionen Menschen unterhalb der sogenannten “Armutsgefährdungsgrenze”, das sind über 17 Prozent der Einwohner Deutschlands – Tendenz steigend, Dunkelziffer unbekannt.
Obwohl die Tafeln keine staatlichen Einrichtungen sind, verweisen beispielsweise Jobcenter durch Sanktionen mittellos gemachte Menschen gerne mit einem Achselzucken an sie weiter. Das wurde in der Vergangenheit immer wieder kritisiert. Die privaten Tafeln sind aber nicht verpflichtet, Bedürftige zu versorgen. Auch müssen Hungrige ihre Bedürftigkeit nachweisen. Wer weder Geld vom Amt noch Rente bekommt, was viele Obdachlose und EU-Migranten betrifft, hat keine Chance auf einen vollen Magen.
Armut explodiert im Westen
Die Anzahl der Tafeln und Essensausgabestellen ist seit 1993 geradezu explodiert. Im Jahr 1994 gab es, statistischen Daten zufolge, sieben dieser Einrichtungen in Deutschland, 2004 waren es bereits 430.
Mit der Einführung von Hartz IV 2005 kam es nochmals zu einem steilen Anstieg: Nur fünf Jahre später hatte sich die Zahl der Tafeln in Deutschland auf 877 mehr als verdoppelt, inzwischen sind noch einmal rund 100 hinzugekommen. Auf den wachsenden Andrang reagieren viele Tafeln mit Aufnahmestopps und teils langen Wartelisten.
Die kontinuierliche Zunahme der Armut ist im Westen aber kein Alleinstellungsmerkmal von Deutschland. In der gesamten Europäischen Union wird dieser Anstieg verzeichnet. Betroffen ist dort schon fast jedes fünfte Kind, in Rumänien sogar fast jedes zweite. Die gleiche Entwicklung registrieren Analysten in den USA sowie in Großbritannien.
Manch einer munkelt, das könnte eventuell am aggressiven marktradikal-imperialistischen Wirtschaften des Westens liegen, vorangetrieben von einer kriegerischen Politik, die nur noch die Profite der monopolisierten Finanz- und Hightech-Riesen, meist mit Sitz in den USA, im Fokus hat, die Kandare für die Oligarchen scheut und den Mittelstand sowie die Lohnabhängigen in den Ruin treibt.
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