Von Dagmar Henn
Es gibt Momente, da wünsche ich mir, ich könnte mit Annalena Baerbock, der Außenministerin, tauschen. Nicht wegen des Reizes, das Auswärtige Amt zu leiten, der vielen Flugreisen oder dem Luxus einer steuerfinanzierten Visagistin, sondern wegen ihrer anscheinend perfekt funktionierenden Scheuklappen.
“Die Bilder des russischen Angriffs auf das Ochmatdyt-Kinderkrankenhaus in Kiew haben sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Ähnlich wie viele andere Bilder der letzten 893 Tage seit dem 24. Februar 2022: die Belagerung von Mariupol, die Massaker von Butscha.”
So war es unter ihrem Namen in der Bild vom Samstag zu lesen. Um solche Sätze zu formen, muss man die Kunst des Ausblendens perfekt beherrschen. Man muss übersehen können, dass etwa die Vorfälle in Butscha stark nach einer Inszenierung aussahen, es nach wie vor keine Beweise dafür gibt, welche Rakete nun genau das Kinderkrankenhaus traf, und zudem zahlreiche Zeugenaussagen existieren, die das wahre Problem in Mariupol beim Asow-Bataillon sehen. Es ist schwer, noch emotional auf Butscha zu reagieren, wenn man gleichzeitig neun Monate lang die Kriegsgräuel in Gaza ignoriert hat.
Dort wurden unzählige Kinder durch Trümmer getötet, von Raketen zerrissen oder von israelischen Scharfschützen beschossen. Nach Monaten des Krieges blendet man Bilder dieser Art oft aus, weil sich das Leid stets wiederholt. Schwerverletzte Kinder in den wenigen verbliebenen Krankenhäusern Gazas oder Eltern, die in Verzweiflung die kleinen weißen Säcke tragen, in denen die Leichen ihrer Kinder liegen, sind schwer zu ertragen. Und um die Bilder aus Butscha überhaupt zu finden, muss man förmlich danach suchen, und selbst dann fällt auf, dass etwas fehlt – Splitter, Blut und jegliche natürliche menschliche Reaktion, die man auch in Gaza beobachtet.
Baerbock hat diese Dinge weder gesehen, noch scheint sie sich bewusst zu sein, dass sogar die letzten Werbetouren des Asow-Regiments auf Widerstand stießen, da die Behauptung, es handle sich nicht um Nazis, längst nicht mehr so viel Glauben findet wie 2014. So viel zur “Belagerung von Mariupol”.
Und dann hört man, die Ukraine wolle Russland zur nächsten Friedenskonferenz im Oktober einladen.
“Man kann sich nur vorstellen, welche Überwindung das gekostet hat. Nach Mariupol, nach Butscha, nach dem Angriff auf das Ochmatdyt.”
Wenn das so ist, dann sollten die palästinensischen Verhandler unverzüglich den Friedensnobelpreis erhalten, denn das, was in Gaza geschieht, wird von Baerbock sicherlich nicht wahrgenommen, die zusammen mit der Bundesregierung signalisiert, man stehe an der Seite Israels gegen iranische Vergeltungsschläge, selbst nach einem Terrorangriff Israels in der iranischen Hauptstadt am Tag einer Präsidentenvereidigung.
Natürlich erscheint Russland als der große Bösewicht, wenn man sonst nichts weiter betrachtet.
“Nicht erst seit 893 Tagen. Sondern seit Jahren. Während wir noch gehofft und in Minsk verhandelt haben, haben viele schon gewarnt.”
Die täglichen Presseschauen auf Baerbocks Schreibtisch sind offenbar nutzlos. Sogar Angela Merkel und François Hollande haben eingestanden, dass es ihnen in den Verhandlungen von Minsk nicht um Frieden, sondern lediglich um die Aufrüstung der Ukraine ging, wie selbst im deutschen Mainstream berichtet wurde. Vielleicht lässt sich Baerbock nur kurze Auszüge vorlesen; wer kann schon wissen, ob sie mehr Informationen verarbeiten kann?
“Was uns schützt, ist unsere Unterstützung für die Ukraine.”
Es ist relativ einfach aufzuzählen, gegen was diese Unterstützung alles schützt: Vor zu niedrigen Energiepreisen, sicheren Arbeitsplätzen, einer zu offenen demokratischen Debatte, und zu viel Unabhängigkeit von den USA. Ist diese Liste vollständig, liebe Annalena?
Die Entscheidung, amerikanische Langstreckenwaffen zu stationieren, wird als “glaubwürdige Abschreckung” bezeichnet, da Russland sonst zunächst Polen, die Balten und die Finnen “verfrühstücken” würde. Alles andere würde bedeuten, sich auf das “Prinzip Hoffnung” zu verlassen.
Was der deutsche Philosoph Ernst Bloch, dessen Hauptwerk “Das Prinzip Hoffnung” war, mit Baerbocks Weltanschauung zu tun hat, bleibt unklar. Sie bezieht klar Stellung für US-Raketen statt für Blochs Ideen, was bei ihrem intellektuellen Profil nicht überrascht. Das zeigt, dass sie über die Ereignisse in der Ukraine seit 2014 oder über den Genozid in Gaza kaum informiert ist und, pünktlich zum Gedenktag an den US-Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki, keinerlei Verständnis für die Gefahren von in Deutschland stationierten atomwaffenfähigen Raketen oder für den Einsatz solcher Waffen besitzt.
Wenn man liest, was sie in der Bild schreibt (oder schreiben lässt), packt einen der Drang, sich doch auf das “Prinzip Hoffnung” zu besinnen, vielleicht um sich daran zu erinnern, dass es einst Deutsche gab, die noch denken konnten und die Welt mit Verstand und echter Empathie betrachteten.
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