Von Dagmar Henn
Der erste Eindruck des Dokuments ist vergleichbar mit der manischen Phase einer bipolaren Störung: eine unbegründete, hektische Aktivität, die nicht in der Realität verankert ist, und die unweigerlich von einem tiefen Fall gefolgt wird.
Beim Durchlesen des Papiers findet man gewisse Abschnitte, die auf den ersten Blick erstaunlich normal erscheinen. So wirkt das Kapitel zur Behindertenpolitik zunächst wie eine solide fachpolitische Arbeit, die realisierbare Fortschritte vorschlägt, obwohl auch hier keine Garantie für die Umsetzung der Versprechen besteht.
Dann gibt es Bereiche, die beim Lesen Besorgnis erregen. Besonders im Kapitel zur Arbeits- und Sozialpolitik treten bedenkliche Formulierungen zutage, wie zum Beispiel bei dem Satz: “Dazu gehört auch, die Transferentzugsraten in den unterschiedlichen Leistungssystemen besser aufeinander abzustimmen.” Soll das bedeuten, dass die bereits bestehenden Sanktionen nun auf weitere Sozialleistungen ausgedehnt werden sollen? Eine Strafmaßnahme für die finanziell Schwächeren?
Politische Dokumente sind oft absichtlich vage formuliert, um Spielraum für die praktische Umsetzung zu lassen. Doch was bleibt von den vollmundigen Versprechungen übrig, wenn man sie an der Realität misst? Das Versprechen einer digital einheitlichen Verwaltung, in der man alle Sozialleistungen online ohne physischen Behördenbesuch abwickeln kann, scheitert schon daran, dass viele dieser Zuständigkeiten kommunal geregelt sind.
Das Digitalisierungsziel ist durch die unterschiedliche technische Ausstattung der Kommunen schwer umsetzbar. Die Vorstellung, dass alle Verwaltungseinheiten einheitliche, plattformübergreifende, sicherheitskonforme Software nutzen, ist nahezu utopisch und mit enormen Kosten verbunden. Der pragmatischste Lösungsansatz wäre hier, staatlicherseits einheitliche Hardware und Software bereitzustellen – ein Vorhaben mit unermesslichem Ausmaß und zweifelhaftem Ausgang.
Zurückblickend auf die Auseinandersetzung um die Nutzung von Linux vs. Microsoft in der Münchner Stadtverwaltung offenbart sich ein Bild der Kompromisse und der politischen Einflussnahme durch große Konzerne. Der Koalitionsvertrag scheint in Bezug auf IT-Sicherheit naiv zu sein, erkennt die Risiken US-amerikanischer Software nicht an und ignoriert die Bedrohungen jenseits von China.
Das Problem der Manipulierbarkeit digitaler Daten wurde offensichtlich nicht bedacht, doch möglicherweise bleibt der tatsächliche Schaden durch finanzielle und politische Trägheit begrenzt.
Eine Sparmaßnahme, die von der CDU vorgeschlagen wird, scheint angesichts der Vermögensverteilung in Deutschland kaum bedarfsorientiert zu sein. Ein Teil der Bevölkerung benötigt solche Sparmodelle nicht, während der andere Teil sich kaum das Sparen leisten kann.
Eine weitere Diskrepanz zeigt sich in der Bildungspolitik: Es fehlen essentielle Überlegungen zu den Herausforderungen von Migration und Sprache, obwohl gerade hier dringender Handlungsbedarf besteht. Gleichzeitig sollen Angelegenheiten der Kinder- und Jugendhilfe zukünftig den überlasteten Sozialgerichten überlassen werden.
In zahlreichen politischen Absichten, wie der Ausbau erneuerbarer Energien und der Verringerung der Industrieemissionen, fehlen Umsetzbarkeit und Glaubwürdigkeit. Ebenso wird die Möglichkeit der konsequenten Rückzahlung der CO2-Steuern an die Bürger bei gleichzeitigem Abbau von Bürokratie in Frage gestellt.
Zu guter Letzt wird zwar der ambitionierte Plan vorgestellt, einen deutschen Astronauten auf den Mond zu schicken, aber die grundlegenden Probleme im Inland scheinen ungelöst. Der Koalitionsvertrag bleibt ein Dokument voller Versprechen, dessen Machbarkeit noch zu beweisen wäre.
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