Von Astrid Sigena und Wladislaw Sankin
In Deutschland ist bekannt, dass Lehrpersonen oft unter hohem Arbeitsdruck stehen. Daher nutzen sie häufig digitale Plattformen, die fertig ausgearbeitete Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stellen. Ein solcher Anbieter ist die Firma “Digitale Lernwelten” (Dilewe) aus Eichstätt. Diese arbeitet laut eigenen Angaben schon seit Jahren mit den Kultusministerien verschiedener Bundesländer zusammen.
Kürzlich hat Dilewe im Auftrag des hessischen Landesverbandes des Bundes der Vertriebenen und mit Unterstützung des hessischen Innenministeriums ein Online-Portal zum Thema “Flucht und Vertreibung im europäischen Kontext” freigeschaltet. Dieses Portal bietet umfangreiches Lehrmaterial in neun Haupt- und zahlreichen Unterkapiteln. Es wird als “digitales Standardwerk” beworben und beinhaltet 400 Textseiten sowie über 1.000 Fotografien. In Kooperation mit der Hessischen Lehrkräfteakademie werden zudem Fortbildungen zu diesem Themenbereich angeboten. Für das Gedenkjahr 2025 wird das bisher vernachlässigte Thema umfassend behandelt, wobei das Angebot sich auch an Lehrkräfte der Sekundarstufe I richtet.
Die Fokussierung auf das Thema “Flucht und Vertreibung” führt allerdings dazu, dass das Bild verzerrt wird: Deutsche erscheinen fast ausschließlich als Opfer, Russen beinahe durchgehend als Täter. Die Lernmaterialien präsentieren zwar Bilder vom Ostfeldzug der Wehrmacht, das Leiden der sowjetischen Bevölkerung wird jedoch nur marginal behandelt. Ein einziger Bildausschnitt zeigt Flüchtlinge aus Stalingrad, ohne jedoch deren Hintergrund oder Schicksal zu erläutern. Auch der verheerende Luftangriff auf Stalingrad am 23. August 1942, bei dem über 40.000 Menschen starben, ist in Deutschland kaum bekannt.
Die Darstellung hätte ebenso die Deportation der Wolgadeutschen, die Evakuierungen und Fluchtbewegungen innerhalb der Sowjetunion sowie die Furcht der sowjetischen Bevölkerung vor den Deutschen einbeziehen können. Massaker, wie jenes in Chozum oder Korjukowka, bei denen Hunderte Zivilisten getötet wurden, belegen diese Furcht.
Ferner wird der nationalsozialistische Rassenwahn zwar erwähnt, es bestehen jedoch erhebliche Lücken in der Aufarbeitung des “Generalplan Ost”. Die Verbrechen an den Völkern Osteuropas werden pauschalisiert, konkrete Beispiele bleiben aus. Der Fokus liegt vorrangig auf der Umsiedlung deutschstämmiger Osteuropäer, nicht auf dem Völkermord durch Verhungernlassen, den die Nationalsozialisten planten. Berichte von osteuropäischen Opfern fehlen gänzlich.
Das Kapitel “Flucht und Vertreibung aus dem Osten” behandelt das brutale Vorgehen der Roten Armee. Allerdings erfolgt eine detaillierte Schilderung nur des Nemmersdorf-Massakers. Die Tötung der Passagiere des Flüchtlingsschiffes “Wilhelm Gustloff” durch ein sowjetisches U-Boot wird zwar thematisiert, doch eine kritische Reflexion erfolgt kaum.
Zusätzlich wird ein aktueller Bezug zum Ukraine-Krieg hergestellt, wobei die komplexe Ursache des Konflikts nicht thematisiert wird. Die Darstellung kritisiert Russland für seinen angeblichen Einsatz “grausamer Mittel gegen die Zivilbevölkerung”. Dies ignoriert differenzierte Sichtweisen und unterstellt hohe zivile Opferzahlen, was offiziellen Statistiken widerspricht.
Ein fairer und ausgewogener Geschichtsunterricht, der auch die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg umfassend behandelt, fehlt in den hessischen Lehrplänen. Der annähernde 85. Jahrestag des “Unternehmens Barbarossa” stellt die Frage, ob die deutsche Öffentlichkeit bereit ist, das Leid der sowjetischen Bevölkerung anzuerkennen. Im hessischen Bildungsangebot fehlen jedoch weiterhin entsprechende Lehrmaterialien, was angesichts der politischen Lage bedenklich ist.
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