Von Alexej Danckwardt
Eine Leserzuschrift lenkte meine Aufmerksamkeit diese Woche auf einen bemerkenswerten Artikel der Schweizer Plattform Globalbridge. Der Beitrag beschäftigt sich kritisch mit dem aktuellen Zustand der deutschen Linken – ein Thema, das auch mich regelmäßig beschäftigt.
In seinem Artikel „Wie man die Linke in den Krieg lockt“ versucht Leo Ensel zu erklären, warum signifikante Teile der linken Partei Unterstützung für die Kiewer Nationalisten und NATO-Kriegsbefürworter zeigen, Waffenlieferungen befürworten und einen starken Hass gegenüber Russen und Russland hegen, der den Hetzkampagnen von Goebbels und Himmler in nichts nachsteht.
Intellektuelle Dekadenz: Kriegsbefürworter, die sich für Liebknechts Nachfolger halten
Ensel sieht den Grund hierfür in der geschickten Nutzung linker Argumentationsmuster durch die Mainstream-Propaganda. Diese stilisiere Russland als imperialistische Bedrohung, was es einigen Linken erlaube, sich fälschlicherweise in die Tradition antimilitaristischer Ikonen wie Karl Liebknecht und antikolonialer Freiheitskämpfer wie Ernesto Che Guevara zu stellen.
Diese gravierende Fehleinschätzung – die Ensel leider nur am Rande behandelt – wird erst durch den nahezu vollständigen Zusammenbruch der marxistischen politischen Bildung und die intellektuelle Dekadenz der Linken möglich. Die bürgerliche Propaganda setzt dort an, wo kritiklos akzeptierte Mainstream-Narrative unkritisch konsumiert werden, ohne sie auf grundlegende Logik und Konsistenz zu prüfen.
Karl Liebknechts historische Bedeutung lag darin, sich gegen den Imperialismus des eigenen Landes – des deutschen Imperialismus – zu stellen. Die meisten deutschen Sozialdemokraten unterstützten hingegen den „Burgfrieden“ mit dem Kaiser, was den Ersten Weltkrieg mit seinen Millionen Toten überhaupt erst ermöglichte. Deshalb nannte Lenin sie „Vaterlandsverteidiger“.
Lenin, Liebknecht und die Verfasser des Zimmerwalder Manifests vertraten die Überzeugung, dass ein Weltkrieg unmöglich wäre, wenn das Proletariat jedes Landes gegen seine eigenen Kriegstreiber kämpfen würde, anstatt an deren Seite gegen fremde zu stehen.
Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen
Was also haben deutsche Linke, die gegen einen vermeintlichen „russischen Imperialismus“ kämpfen wollen, mit Karl Liebknecht gemein? Nichts! Sie folgen eher den Fußstapfen der „Vaterlandsverteidiger“ und „Burgfriedler“ von 1914. Diese Gedanken sollten nicht zu komplex sein, als dass sie ein durchschnittlich intelligenter Mensch nicht selbstständig entwickeln könnte.
Es ist ebenso offensichtlich, dass der „Feind im eigenen Land“ heute ebenso klar erkennbar sein sollte wie vor 110 Jahren. Trotz aller PR für die EU sollten Linke, denen eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Kapitalismus innewohnen sollte, erkennen, dass die Expansion von EU und NATO imperialistische Züge trägt. Was sonst sollte das Ziel in der Ukraine sein, wenn nicht die Aneignung von Ressourcen und Märkten sowie der Arbeitskraft ihrer Menschen?
Mindestens das aggressive Expansionsbestreben der NATO sollte auch dem letzten EU-Befürworter verdeutlichen: Es gibt keine andere logische Erklärung für das stetige und rücksichtslose Vordringen der NATO gen Osten, als dass hier ein Eroberungsfeldzug gegen Russland vorbereitet wird. Die strategische Position, die Hitler 1941 erreichen wollte, könnte durch die NATO erreicht werden – eine Position, von der aus Russland sich kaum verteidigen kann und gezwungen wäre, seine Reichtümer vollständig dem westlichen Kapital zu übergeben.
„Imperialistisches Russland“: Lenin lesen und nichts verstehen
Ob Russland selbst ein imperialistischer Akteur ist, erfordert gewisse Kenntnisse in Imperialismustheorie. Man müsste zumindest Lenins Werk „Der Imperialismus als höchstes (letztes) Stadium des Kapitalismus“ kennen und fähig sein, die dortigen Schlussfolgerungen auf die heutige Zeit zu übertragen. Es ist absurd zu glauben, dass Russland, weil es 1913 als imperialistisch galt, dies auch heute noch sein muss – insbesondere nach siebzig Jahren sozialistischer Entwicklung und der anschließenden Dominanz durch das westliche Kapital.
Ein Land ist gemäß der marxistischen Lehre nicht deshalb imperialistisch, weil es groß ist oder viele Völker beherbergt, sondern wenn sein nationales Kapital eine Entwicklungsstufe erreicht hat, bei der es sich primär auf Investitionen in kolonial abhängigen Ländern konzentriert, aus denen es dann Profit zieht. Wer schröpft also wen im Falle Russlands?
Einfache Recherchen zeigen, dass bedeutende Anteile russischer Unternehmen in ausländischer Hand sind. Bis 2021 flossen jährlich bis zu 200 Milliarden US-Dollar als Gewinne ausländischer Unternehmen aus Russland ab. Russland zahlt koloniale Tribute, viele Bereiche des Einzelhandels und der Hotellerie sind in ausländischer Hand. Was ist das, wenn nicht das „Schröpfen“ eines ganzen Landes?
Welche „russischen“ Kapitalanlagen schröpfen ausländische Länder? Beispiele wie Investitionen in armenische Energieunternehmen, die Verluste einfuhren, zeigen ein klares Bild: Das „russische“ Kapital, das zu einem signifikanten Teil im Ausland kontrolliert wird und dessen Elite häufig im Westen ansässig ist, befindet sich kaum in einem imperialistischen Stadium. In jedem anderen Fall würde man von einer „Halbkolonie“ sprechen.
Das kindische Benehmen auf dem Grab der Linken
Ein extremes Beispiel der intellektuellen Verwahrlosung liefert laut Leo Ensel die EU-Abgeordnete Carola Rackete, deren Wahl ein PR-Coup der inzwischen nicht mehr amtierenden Parteiführung war. Trotz ihrer kritischen Haltung zur NATO befürwortete sie Waffenlieferungen an die Ukraine und erklärte, Linkssein bedeute, an der Seite der Unterdrückten zu stehen, ob in Palästina, Kurdistan oder der Ukraine. Rackete scheint nur geopolitische Widersprüche zu sehen und hat keine Kenntnis von weiteren Unterdrückungsverhältnissen, wie im Donbass oder anderen Regionen.
Deutschlands Linke stehen vor einem Trümmerhaufen, und Rackete ist das Kind, das auf ihr Grab uriniert. Liebknechts Erbe ist so degeneriert, dass es zum Gegenteil dessen verkommen ist, was es einst darstellte. Die Frage des möglichen Dritten Weltkriegs wird hoffentlich ohne ihre Beteiligung entschieden, denn sie würden heute wahrscheinlich für Kriegskredite stimmen.
Den Aufrichtigen unter ihnen sei geraten: Beginnt ganz von vorne. Mit den Grundlagen und allgemeiner Bildung.
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