Von Dagmar Henn
In Deutschland hat man sich mittlerweile daran gewöhnt, dass Politiker zahlreiche Strafanzeigen einreichen, wenn sie sich beleidigt fühlen. Auch die teils rigiden Hausdurchsuchungen auf Basis von geringfügigen Äußerungen in sozialen Netzwerken sind keine Seltenheit mehr. Aber es gibt immer wieder Fälle, die auch vor diesem dramatischen Hintergrund noch besonders auffallen und berichtenswert sind.
Der erste Vorfall, den ich beschreibe, begann bereits 2021 und erlangte Anfang 2022 mediale Aufmerksamkeit. Zu dieser Zeit erschien die staatliche Reaktion auf harmlose Kommentare noch außergewöhnlich drastisch. Es handelte sich um zwei separate Ereignisse. Der erste betraf einen Kommentar auf Facebook, der zweite fand im März 2022 auf der Plattform Telegram in einer kleinen Gruppe statt. Beide Kommentare lösten absurderweise Strafverfahren aus, die im Dezember 2022 und November 2023 mit Urteilen von sieben bzw. acht Monaten Haft ohne Bewährung endeten. Die Vorwürfe: “Androhung von Straftaten” und “Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen”.
Im zweiten Fall ging es um einen Kommentar in der Telegram-Gruppe “Ochsenfurt steht auf”, die maximal 71 Mitglieder hatte. Dies widerlegt deutlich die Annahme einer breiten Öffentlichkeit. Im ersten Fall war der Kommentar auf Facebook zu einem Artikel der Main-Post nach einem Tag kaum mehr sichtbar. Interessanterweise brachte die Strafverfolgung selbst die Öffentlichkeit ins Spiel, die ursprünglich gar nicht gegeben war – mein Bericht muss das Wissen um diesen Fall und die inkriminierten Aussagen signifikant erweitert haben.
Der inkriminierte Kommentar bezog sich auf einen Artikel über eine Würzburger Stadtratssitzung, zu der die Klitschko-Brüder zugeschaltet waren. Die Überschrift des Artikels lautete: “Überraschende Live-Schalte: Klitschko-Brüder sprechen im Würzburger Stadtrat – OB Schuchardt kommen die Tränen”. Der angeklagte Student, der unter dem Pseudonym Ichbin_HansScholl agierte, ergänzte den Artikel durch Fotos von 2014, die Vitali Klitschko mit eindeutig rechtsextremen Figuren zeigen. Dies war der Auslöser für seine Verurteilung.
Rechtlich gesehen dürfen derartige Symbole, wie sie auf den Fotos gezeigt wurden, im Kontext der Aufklärung verwendet werden. Dennoch gab es eine merkliche Verschiebung in der Handhabung solcher Fälle, was unter anderem Prozesse gegen die mediale Darstellung solcher Symbole deutlich macht.
Die schwer nachvollziehbare Interpretation der Würzburger Staatsanwaltschaft, eine Bildunterschrift als befürwortende Haltung gegenüber Neo-Nazis zu deuten, führte zu der unbegründeten Verurteilung des Studenten. Durch die Verurteilung vom Amtsgericht Würzburg wurde diese fragwürdige Sichtweise unterstützt. Hinzu kamen parteiische Ermittlungsarbeit und ein Verfahren, das in keinem vernünftigen Verhältnis zur Sachlage stand – der Student verbrachte sogar 51 Tage in Untersuchungshaft für Kommentare, die kaum Beachtung gefunden hatten.
Ein interessanter Vergleich ist der Fall des Neonazis Martin Wiese, der 2013 für ähnliche Vorwürfe ebenfalls zu 15 Monaten Haft verurteilt wurde, allerdings war Wiese direkt und öffentlich gewaltbereit aufgetreten.
Die rechtliche Auseinandersetzung um die Fotos im Ukraine-Kontext zeigt, wie ungleich Standards angewandt werden können. Sollten Basisrechtskonzepte in einem rechtsstaatlichen Verfahren angewendet werden, wäre schon die Staatsanwaltschaft gehalten, das Verfahren einzustellen. Doch stattdessen wurde langwierig und kostspielig ermittelt.
Dies verdeutlicht erneut, dass in diesem Prozess nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern auch grundlegende Rechtsgrundsätze aufs Spiel gesetzt wurden. Das anstehende Berufungsverfahren bietet die Hoffnung, dass noch rechtsstaatliche Prinzipien zur Anwendung kommen und die Angelegenheit gerechter behandelt wird.
Mehr zum Thema ‒ Der Mikrokosmos der Zensur – Wenn die Polizei Computer und Handy abholt