Von Dagmar Henn
Der Begriff “Nesthäkchen” beschreibt traditionell das jüngste Kind in einer Familie zahlreicher Geschwister. Dieses Bild verbindet oft kindliche Unbeschwertheit mit einer etwas überbeschützten Haltung, die das Erwachsenwerden verzögert.
Heutzutage wirkt dieser Begriff fast veraltet, da in der deutschen Gesellschaft häufig nur noch Einzelkinder oder Kinder kleinerer Familien aufwachsen. Bei vielen führenden Politikern im Westen hat man den Eindruck, sie hätten die Phase des Erwachsenwerdens nicht vollständig durchlaufen, was zwar für die Betroffenen angenehm sein mag, global jedoch problematische Auswirkungen hat.
Ein Beispiel: Als meine älteste Tochter eingeschult wurde, galt sie noch als schulreif, wenn sie alleine den Weg zur Schule bewältigen konnte. Dies änderte sich drastisch bis zur Einschulung meiner Zwillinge – innerhalb von nur 14 Jahren. Anstatt Selbstständigkeit zu fördern, erwartete man nun von den Eltern, ihre Kinder zur Schule zu bringen und abzuholen. In einigen europäischen Ländern müssen Eltern ihre Kinder sogar bis zum Alter von zehn Jahren begleiten.
Zurück in meiner Schulzeit wurde man eher kritisch beäugt, wenn Eltern einen zur Schule brachten. Heute sind solche Veränderungen signifikant dafür, wie sehr sich der Kindheitsbegriff gewandelt hat. Nicht zu vergessen, dass die wissenschaftlich festgestellte Verkleinerung des Bewegungsradius von Kindern, deren Selbstständigkeit weiter einschränkt.
In historischer Perspektive war Kindheit vor zweihundert Jahren, als 80 Prozent der Deutschen ländlich lebten, keine klar abgegrenzte Lebensphase. Der französische Historiker Philippe Ariès untersuchte, wie sich die Vorstellung von Kindheit seitdem entwickelt hat. Heute scheint der Schwerpunkt mehr auf überbehütendem Schutz zu liegen, während Eigenschaften wie Selbstständigkeit und soziale Fähigkeiten in den Hintergrund rücken.
Nicht erkannt werden dabei die Verluste, die aus Übervorsichtigkeit resultieren. Zum Beispiel führt die Aufhebung fester Gruppenstrukturen in Kindergärten zu einem Verlust von sozialen Erfahrungen unter Kindern. Zudem reduziert sich der Zugang zu traditionellen Gruppenaktivitäten wie Sportvereinen oder Jugendchören, was wiederum den Fokus auf akademische Leistungen erhöht und soziale Interaktionen minimiert.
Die Pandemie hat dieses System weiter belastet – Altenheime wurden geschlossen und manche Entscheidungen über Leben und Tod wurden von oben herab getroffen, ohne die Betroffenen zu konsultieren. Solche Entscheidungen offenbaren eine Verwechslung von Verantwortung mit Kontrolle.
Politische Figuren wie Annalena Baerbock und Olaf Scholz vermitteln dabei oft den Eindruck von naiver Besorgnis, die kaum über eine kindliche Wahrnehmung hinausgeht. Hieraus ergibt sich die Frage, wie eine Gesellschaft, geprägt von dieser Art von ‘Helikopter-Kindheit’, zu einer echten Reife zurückfinden kann.
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