Von Dagmar Henn
Und noch ein weiterer Bereich, in dem die Ampelkoalition einen Negativerfolg erringt: Nach neuesten Angaben des Statistischen Bundesamts, diesmal hervorgelockt durch eine Anfrage von Abgeordneten des BSW, haben 10,1 Millionen Rentner in Deutschland, oder 54,3 Prozent aller Rentenbezieher, eine Rente von weniger als 1.100 Euro im Monat. Die Armutsgrenze, die bei 60 Prozent des Median-Einkommens liegt, beträgt derzeit 1.250 Euro pro Monat.
Das lässt sich natürlich nicht unmittelbar miteinander verknüpfen, weil zum einen die Armutsgrenze für ein Rentnerpaar nicht beim Doppelten dieser 1.250 Euro liegt, zum anderen aber diese bundesweit einheitliche Armutsgrenze gerade in den Metropolen durch die hohen Mieten unzureichend ist; aber insgesamt legt es eben doch nahe, dass die Hälfte aller Rentner arm ist.
Das ist ein enorm hoher Wert und wäre ein gesellschaftlicher Skandal, wenn es noch eine Gesellschaft gäbe, die auf diesem Ohr hört. Tut sie aber nicht. Im Gegenteil. Die Ampel hat sich jüngst darauf geeinigt, diese ohnehin empörende Rentenhöhe auf eine neue Weise “zukunftsfest” zu machen – durch die “kapitalgedeckte Altersvorsorge”.
Es ist ja nicht so, dass man mit derlei keine Erfahrungen hätte. Da ist beispielsweise die Riester-Rente, bei der sich herausstellte, dass eigenartigerweise jene, denen sie angeblich nützen sollte, gar keine derartigen Verträge abschlossen. Und der Grund dafür gilt heute ebenso wie damals, wie eine Umfrage des Versicherungskonzerns Axa jüngst bestätigte:
“59 Prozent hatten bei der Axa-Umfrage angegeben, gern mehr sparen zu wollen. Allerdings würden ihre Finanzen das nicht zulassen.”
Zugegeben, in anderen Ländern funktioniert das etwas besser. Man kann eben nur entweder eine Niedriglohnpolitik fahren oder die Bevölkerung zu privater Altersvorsorge verpflichten, beides gleichzeitig geht nicht. Aber es gibt noch bösartigere Fallen.
Die beste Illustration dafür ist ein Ereignis bei einem der vielen (vergeblichen) Sanierungspläne für Karstadt. Es ist schon einige Jahre her, als der damals aktuelle Sanierungsplan am Einspruch einer Bank scheiterte, die – und das ist der interessante Punkt – ausgerechnet im Besitz des Pensionsfonds der Karstadt-Beschäftigten war.
Man kann das auch einfacher formulieren. Das gesamte Volkseinkommen teilt sich in zwei Teile. Der eine sind die Lohneinkommen, der andere die Einkommen aus Kapitalerträgen. Wenn nicht gerade ein hohes Wirtschaftswachstum herrscht, kann der eine der beiden Teile nur wachsen, wenn der andere sinkt. Nachdem aber die Menge des Kapitals, die Erträge bringen soll, kontinuierlich weiter wächst, muss entweder auch das Gesamteinkommen kontinuierlich wachsen, oder der Anteil der Lohneinkommen sinken, wenn nicht die Verzinsung dieses Kapitals immer weiter fallen soll.
Wenn sich also ein Bezieher von Lohneinkommen, nennen wir ihn Herrn Meier, einen Teil seiner Einnahmen vom Munde abspart, um damit ein Bröckchen aus der Gesamtmenge der Kapitaleinnahmen beanspruchen zu können, dann tritt ihm dieses abgesparte Bröckchen sofort bei der Verteilung des Gesamteinkommens als Gegner gegenüber, selbst wenn er die versprochenen Vorteile aus diesem gesparten Geld erst in Jahrzehnten erwarten kann. Jemand, der reich genug ist, um nur von Kapitalerträgen zu leben, hat dieses Problem nicht.
Was natürlich besonders ausgeprägt wirkt, wenn die Löhne für breite Teile ohnehin schon in den Keller gedrückt sind. Noch lustiger wird das Ganze, wenn es sich dabei auch noch um mündelsichere Anlagen handelt. Die sind nämlich schon seit mindestens fünfzehn Jahren ausgesprochen rar, so rar, dass auf Betreiben unter anderem der Allianz die Bundesautobahnen in Anlagemöglichkeiten mit staatlich garantierter Verzinsung verwandelt werden mussten. Diese garantierte Verzinsung stammt aus den Steuereinnahmen, und die Steuern stammen überproportional aus den Lohneinkommen, weil Konsumsteuern mittlerweile den größten Anteil stellen (das gilt gleichermaßen natürlich auch für die Steuerförderungen für derartige Sparanlagen).
Was bedeutet, dass der anlagewillige Niedriglöhner Maier nicht nur auf aktuellen Konsum verzichtet und nicht nur in die Falle gerät, dass das nicht verkonsumierte Einkommen beziehungsweise dessen Verwalter ihr Bestes tun werden, um sein Einkommen weiter zu drücken; er darf womöglich auch noch die Verzinsung in Gestalt seiner Steuern selbst finanzieren. Das ist in jeder Hinsicht ein Verlustgeschäft, zumindest für besagten Herrn Maier.
Im Nachbarland Österreich, das übrigens nach den letzten mir vorliegenden Informationen ebenso kapitalistisch wirtschaftet wie Deutschland, liegt die Mindestpension derzeit bei 1.325,24 Euro. Das liegt immerhin selbst über der deutschen Armutsgrenze.
Erstaunlich ist hierbei, dass die Armutsgrenze in Österreich offiziell bei 1.392 Euro liegt, obwohl die Berechnungsregeln dieselben sein sollten und die Mieten in Österreich niedriger sind als in Deutschland. Da liegt die Vermutung nahe, dass die deutsche Armutsgrenze heruntergerechnet wurde.
Mehr als 1.600 Euro monatlich haben übrigens nur 18,9 Prozent der Rentner. Das klingt so oder so nicht nach einem gesicherten Lebensabend. Und selbst die Preise für die Elendsversorgung bei den Tafeln steigen.
Das, was die Bundesregierung beschlossen hat, ist jedenfalls kein Rezept gegen die Altersarmut, sondern hilft bestenfalls ein paar überflüssigen Fonds, noch ein paar Jahre lang ein Funktionieren vorzutäuschen.
Leider hilft derzeit nicht einmal mehr das, was jahrzehntelang das Problem tatsächlich hätte lösen können: eine Einbeziehung der Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung und eine Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze bei gleichzeitiger Einführung einer Höchstrente. Die schon seit Jahrzehnten kapitalgestützten Rentenversicherungen von Handwerkern oder Rechtsanwälten gehen nämlich vielfach selbst auf dem Zahnfleisch, weil eben zu viel Kapital in einen Markt drängt, auf dem sich real wenig tut. Das sieht man beispielsweise an der Liste der von der Benko-Pleite Betroffenen, auf der sich eine ganze Reihe von Pensionsfonds findet.
Dabei gibt es noch das klitzekleine Problem, dass die ganze “Rettung” aus der Finanzkrise 2009 darin bestand, eine gewaltige Dollar-Blase aufzupusten, die in dem Moment platzt, in dem der US-Dollar seine Rolle als Leitwährung verliert, und dieser Moment rückt immer näher.
Die Politiker in den USA wie in der EU arbeiten übrigens selbst eifrig daran mit, wie sich an der Begierde zeigt, die eingefrorenen russischen Vermögen zu kassieren. Der Großteil dieser Gelder liegt bei dem Brüsseler Wertpapierverwalter Euroclear, dessen letztes Stündlein geschlagen haben dürfte, wenn es tatsächlich zu diesem Schritt käme. Was das gesamte wacklige westliche Finanzsystem in große Turbulenzen stürzen würde, weil das der weltweit größte Verwalter ist, weshalb es ja seit Monaten hin- und hergeht in dieser Frage.
Die Ampelkoalition jedenfalls will die zukünftigen Rentenerhöhungen auf eine Weise sichern, die bereits jetzt nicht mehr funktioniert. Mit der bereits bestehenden Armut geht man so um wie mit allen anderen Problemen, die nicht Ukraine oder Rüstung heißen – man ignoriert sie. Sicher würde es auch noch gelingen, eine passende Habecksche Formulierung zu finden; sie sind nicht arm, sie können sich nur nichts kaufen.
Ohnehin sagt die Erfahrung, dass die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit in Deutschland, sei es Altersarmut, sei es die Wohnungsfrage, schon bald wieder verschwindet. Schon seit einem Vierteljahrhundert gibt es in Deutschland genau zwei Zeiträume im Jahr, in denen es soziale Themen noch in die Presse schaffen, und man könnte fast sagen, dabei handelt es sich um die sichtbarsten Überreste der christlichen Traditionen. Das sind nämlich immer ungefähr die vier Wochen vor Weihnachten und jene vor Ostern. Ostern ist dieses Jahr am 31. März. Danach sind die deutschen Rentner zwar weiterhin arm, aber es wird nicht mehr darüber geschrieben.
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