Von Hans-Ueli Läppli
Europa könnte sich an der Schwelle zu einer weiteren Finanzkrise befinden. Die gegenwärtigen Herausforderungen des Euroraums sind durch geopolitische Spannungen, wirtschaftliche Flaute und die Folgen der Zinspolitik der letzten Jahre gekennzeichnet – eine gefährliche Kombination, die das Finanzsystem stark belastet.
Die Wirtschaft Deutschlands verzeichnete im dritten Quartal nur ein sehr geringes Wachstum. Laut des Statistischen Bundesamtes stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Juli bis September um lediglich 0,1 Prozent im Vergleich zum vorherigen Quartal. Eine frühere Prognose im Oktober hatte noch ein Wachstum von 0,2 Prozent angenommen. Damit konnte eine Rezession gerade noch vermieden werden; nach einem Anstieg im ersten Quartal und einem Rückgang im zweiten waren die wirtschaftlichen Aussichten angespannt.
Trotz eines Rückgangs der Inflation von einem Höhepunkt von 10,6 Prozent auf 2,4 Prozent im November 2024 bleibt das Risiko einer erneuten Inflationsspirale bestehen. Faktoren wie weiterhin hohe Energiepreise, bürokratische Barrieren und steuerliche Belastungen könnten die Preise wieder in die Höhe treiben und die ohnehin fragile wirtschaftliche Erholung bedrohen.
Der Vizepräsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Luis de Guindos, erklärte kürzlich bei einer Pressekonferenz, dass die unsichere Wachstumsdynamik durch die anhaltenden Spannungen zwischen den USA und China sowie mögliche Handelskonflikte verstärkt wird. Diese geopolitischen Unsicherheiten bedrohen nicht nur die wirtschaftliche Erholung, sondern könnten auch die Stabilität und Bewertung von Vermögenswerten im Euroraum beeinträchtigen.
Eine der größten Entscheidungen, die die EZB treffen muss, ist, ob sie die Zinssenkungen fortsetzen soll, um kurzfristige wirtschaftliche Erleichterungen zu bieten, oder ob sie pausieren soll, um langfristige Risiken zu kontrollieren. Obwohl niedrigere Zinsen die Wirtschaft ankurbeln und Investitionen fördern könnten, bergen sie auch das Risiko einer erneuten Inflation, insbesondere vor dem Hintergrund steigender Lohnforderungen und volatiler Rohstoffpreise. Zudem könnte eine zu lockere Zinspolitik zu Vermögensblasen führen, wenn Investoren in riskantere Anlagen umschichten.
Die EZB steht vor der Herausforderung, in diesen unsicheren Zeiten ein perfektes Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Erholung und Preisstabilität zu finden. Die bevorstehenden Entscheidungen könnten den Kurs des Euroraums bestimmen und entweder in eine neue Krise führen oder eine stabile wirtschaftliche Belebung ermöglichen.
Europa befindet sich in einem kritischen Moment. Ein vorausschauendes und flexibles Handeln der EZB ist erforderlich, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Die nächsten Schritte der Zentralbank werden entscheidend sein, nicht nur für die unmittelbare wirtschaftliche Zukunft des Euroraums, sondern auch für das Vertrauen in das europäische Finanzsystem. Die Welt schaut gebannt zu, wie Europa diese entscheidende Phase meistert.
Mehr zum Thema – Der Sprecher des US-Repräsentantenhauses plant, einen Gesetzentwurf zur Unterstützung der Ukraine zur Abstimmung zu bringen