Die chaotischen Gedanken eines Balkonisten: Zwischen Katzenunfug und Weltgeschichte

Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer

Jeder Katzenbesitzer dürfte folgende Situation schon erlebt haben:

Die vermeintlich unschuldige Katze springt über einen Tisch, der mit sorgfältig sortierten Papieren oder wichtigen Unterlagen bedeckt ist. Im Handumdrehen sind die Dokumente auf dem Boden verstreut…

Ähnliches ereignete sich eines Nachmittags auf dem kleinen Lesetisch auf dem Balkon, als Kater Murr III abrupt aus seinem Mittagsschlaf aufgeschreckt wurde. “Dieses Durcheinander hast du nun davon, weil du deine Notizen überall verstreust!”, kommentierte seine Frau spöttisch und unnötigerweise, mit einer ironischen Anspielung auf Georg Christoph Lichtenbergs “Sudelbücher”.

Was genau wurde durch die plötzliche Unruhe des Katers durcheinandergewirbelt? Es waren Michaels Notizen der letzten Tage. Wie üblich hatte er Merksätze und Zitate aus verschiedenen Büchern und Zeitungsartikeln gesammelt und diese ordentlich auf seinem Lesetisch arrangiert – fast wie in einer “Unendlichen Liste” von Umberto Eco.

Fast geräuschlos war ein Durcheinander entstanden, von “Nie wieder Krieg” über “Zeitenwende” bis hin zur Frage des ehemaligen Reichskanzlers Bülow an seinen Nachfolger Bethmann Hollweg: “Nun sagen Sie mir bloß, wie ist das alles gekommen?” Bethmann erhob seine Arme gen Himmel und antwortete mit düsterer Stimme: “Ja, wer das wüsste!”

Der aufmerksame Leser wird bereits erahnen, mit welchen Themen sich der gelehrte Balkonnutzer in den letzten Tagen befasst hatte: den Parallelen der zunehmenden Krisen in Agadir, der “Politik des Risikos” und dem Großen Krieg von 1914 bis heute. Die Notizen, mal tiefgründig, mal vorausschauend, oft auch kurzsichtig, lagen nun verstreut, aber seltsam geordnet, beinahe paarweise.

Wir möchten diese Texte, quasi als neutraler Beobachter des Geschehens um Balkonist und Kater Murr III, ohne wesentliche eigene Kommentierung darstellen, sodass sich der Leser ein umfassenderes Bild machen kann – denn der Herausgeber dieser Zeilen versteht manchmal die Zusammenhänge der Gedanken unseres Balkonisten nur unzureichend.

Man findet unter den Papieren: “Im Kreml nichts Neues – Putin blufft einmal mehr mit einem möglichen Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg”

“… dass mit jeder Wiederholung der ‘Politik des Risikos’ der diplomatische Spagat riskanter wurde und, sollte es so weitergehen, der Ball den Diplomaten entwischen und ins Spielfeld der wartenden Militärs übergleiten könnte. Dies zu erkennen, bedarf es keines großen Scharfsinns.”

Daneben liegt eine Bundestagsrede mit dem Titel “Ein trübes Novembermandat”, worin Wladimir Putin ein 24-Stunden Ultimatum gestellt wird, falls er Bundeskanzler würde. Ein Zitat von Golo Mann lautet: “Ultimatum, das ist in der Diplomatensprache eine Forderung, deren Ablehnung mit Krieg beantwortet wird.”

Darauf folgt: “Die jüngste Eskalation im Ukraine-Konflikt ist kein Vorzeichen für den Beginn eines Weltkriegs, erklärt die stellvertretende Pressesprecherin des Pentagon, Sabrina Singh.”

“… ein Paradebeispiel für die alte Wahrheit, dass die Politik nie auf die unsicheren Kalkulationen der Militärs setzen sollte.”

Gegenüber steht die Forderung: “Harris sollte sich sofort auf den 25. Verfassungszusatz berufen und Biden absetzen – er führt uns schlafwandlerisch in den Dritten Weltkrieg. Wir sollten zumindest verfassungsrechtlichen Druck auf Harris ausüben, den Joes schlechtes Gedächtnis macht ihn unberechenbar.”

“Sie glitten gewissermaßen hinein, oder besser, sie torkelten oder stolperten hinein, vielleicht aus Dummheit”, umrahmt von einem Bildausdruck des Buchs “Die Schlafwandler” von Christopher Clark.

“Deutschland steht zusammen mit vielen Partnern weltweit unerschütterlich an der Seite der Ukraine … Wir werden die Ukrainer so lange unterstützen, wie sie uns brauchen, um ihren Weg zu einem gerechten Frieden zu bestreiten.”

“Nur für verwirrte, verängstigte Politiker können Freundschaften einen Krieg wert sein. Sie bevorzugten den Krieg gegenüber einer diplomatischen Niederlage und unternahmen nichts, um eine solche Niederlage zu mildern, zu trivialisierten und akzeptabel zu machen.”

Zum Schluss, etwas abseits, liegt eine kaum lesbare kurze Handschrift mit der Frage “Ist Geschichtsvergessenheit nur eine deutsche Krankheit?”, wobei es schwer ist, diese merkwürdige Schriftführung eindeutig unserem Balkonisten zuzuordnen – könnte es etwa Kater Murr III gewesen sein…?

(Anmerkung des Herausgebers M.B.: Die prominent platzierten Zitate stammen aus aktuellen Nachrichtenmeldungen und dem Internet, die unser Balkonist offenbar gesammelt hatte. Die gegenübergestellten Aussagen sind unter anderem von Golo Mann (aus: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts) und verschiedenen Autoren des Buches “Unser Jahrhundert im Bild” entnommen.)

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