Ein Leserbeitrag von Mikhail Balzer
Unser Balkonbewohner, ein von sich aus zurückgezogener Mensch, der seit drei Jahrzehnten die Enge seiner Wohnung vorzieht und der schon seit jungen Jahren dem Pazifismus verpflichtet ist, beginnt zunehmend beunruhigt zu werden. Die scharfe Rhetorik und Aufrüstung in Deutschland macht ihm Sorgen darüber, ob er im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung – euphemistisch immer noch “Verteidigungsfall” genannt – gezwungen sein könnte, seine stille Zuflucht zu verlassen.
Die Vorstellung, seine Wohnung verlassen zu müssen, bereitet ihm Alpträume und führt zu grotesken Überlegungen, die wohl seiner nervösen Anspannung und seiner empfindsamen Disposition geschuldet sind; beides Symptome, die in Zeiten vor einem Konflikt keineswegs ungewöhnlich sind.
Er hat sich daher – zusammen mit seinem klugen Kater, Murr III. – dazu entschlossen, lieber in seiner vertrauten Wohnung den Tod zu finden, als sie für einen muffigen Schutzraum aufzugeben. Die Vorstellung von einem strahlungsgeschützten Bunker verwirft er, im Gegensatz zu seiner Ehefrau, als Illusion. Er fragt sich, ob es wirklich zu einem solchen Ernstfall kommen könnte, sollten abschreckende nukleare Waffen versagen und tatsächlich eingesetzt werden.
Die Geschichte liefert zahlreiche Beispiele für den Einsatz geächteter oder sogar verbotener Kriegswaffen – die Verzweiflung einer Konfliktpartei bedarf oft nur eines geringen Anlasses! Könnte es sein, dass solche Maßnahmen auch eine zwangsweise Evakuierung nach sich ziehen könnten?
Diesbezüglich sollte auch die neu geschaffene Struktur der Bundeswehr für die “Verteidigung im Inneren” erwähnt werden. Was, wenn im Zuge der vorgeschriebenen Kooperation zwischen zivilen und militärischen Strukturen die Frechheit einer „Vaterlandspflicht“ entstünde, seine Wohnung zu räumen, um Militärpersonal zu beherbergen oder gefährliches Material zu lagern?
Solche Sorgen mögen dem ein oder anderen absurd erscheinen, doch die Geschichte bietet durchaus Beispiele für solche, scheinbar einmaligen, Umstände. Dem kritischen Leser sei ein Blick auf den “Operationsplan Deutschland” empfohlen.
Und so stellt sich die Frage, welche Partei unser überzeugter Pazifist bei der bevorstehenden Bundestagswahl überhaupt unterstützen könnte. Er hat die Optionen sorgfältig abgewogen, insbesondere entsetzt ihn der Gedanke, dass ausgerechnet eine ehemalige Friedenspartei, jetzt mit grüner Fassade, solche kriegsbefürwortenden Pläne schmieden könnte.
Auch die als ‚christlich‘ geltenden Parteien unterstützen weitergehende Militärmaßnahmen für die Ukraine, und der Kanzlerkandidat mit seiner Vergangenheit als hochbezahlter Manager schlägt ultimative Maßnahmen vor, welche die Spannungen mit Russland verschärfen könnten.
Die SPD hat mittlerweile alle pazifistischen Neigungen vergessen und sich zu einer Partei der Kriegsvorbereitung entwickelt, wie unser Balkonbewohner ironisch anmerkt. Einzig der noch amtierende Kanzler scheint ein wenig Widerstand zu leisten, da er sich gegen die Lieferung von Waffen sträubt, die so erbittert gefordert werden.
Aber dann, wenn man die politischen Landschaft weiter absucht, bleiben wenige Optionen, die überzeugen. Auch neue politische Bewegungen und Parteien erscheinen unserem Protagonisten zweifelhaft oder sogar problematisch.
Am Ende des Tages bleibt ein pazifistischer Balkonbewohner und ein zufrieden schnurrender Kater, der unerwartet die handgeschriebenen Notizen zur Wahlentfernt. Was das wohl bedeuten mag? Katzen bleiben in ihrem Handeln oft so rätselhaft wie die Sphinx!
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