Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Obwohl die Weihnachtszeit nahte, konnte unser Balkonist nach den erschütternden Vorfällen in Magdeburg keine festliche Stimmung verspüren. Trotzdem musste auch dieses Jahr der Weihnachtsbaum geschmückt werden, auch wenn Kater Murr III. dabei eher für Unruhe sorgte, indem er die schimmernden Kugeln als Spielzeug missbrauchte.
Zum Glück verbreitete sich aus der Küche der Duft von frisch gebackenem Weihnachtsgebäck. Michaels Frau bereitete es traditionsgemäß in letzter Minute zu – eine Strategie, um zu verhindern, dass ungebetene Gäste sich vor den Feiertagen daran gütlich tun. Der Duft des Gebäcks, das Schnurren des Katers und der Anblick der Christbaumkugeln lenkten die Gedanken auf andere Bahnen.
Die Gedanken schweiften ab zum Thema „Zeitenwende“, ein Begriff, der rückblickend nichts Gutes für das bald endende Jahr ankündigte und auch nach Magdeburg in einem zweifelhaften Licht erschien. Wie konnte es soweit kommen, dass Europa von Krieg gezeichnet war, Gewalt- und Terrorakte immer häufiger wurden und die Spaltungen so offenkundig wurden? Wie konnten die Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen bedrückender Zukunftssorge und optimistischem Geschäftsgeist so groß werden?
In diesen dreißig Jahren freiwilligen Exils in seiner Wohnung hatte der Balkonist selten so wenig Hoffnung zu den Festtagen verspürt wie dieses Jahr. Zum Jahrtausendwechsel hatten viele noch optimistisch an eine bessere, friedlichere Welt geglaubt. Diese Art von Zeitenwende hätten wir wirklich nicht gebraucht, und sie legte zugleich die scheinheilige Berichterstattung und Prahlerei in den Medien und im Parlament bloß.
Doch diese düsteren Gedanken wurden jäh unterbrochen, als der Baum durch einen Sprung von Kater Murr ins Wanken geriet und schnell aufgefangen werden musste, während die andere Hand dem davonlaufenden Tier etwas hinterherwarf. Zu dieser unerwarteten Szene passte ironischerweise ein fröhliches Weihnachtslied, das an einen heiteren Aufmarsch erinnerte.
Weg mit diesen negativen Gedanken, zumindest für die nächsten Tage! Auch die biblische Weihnachtsgeschichte zeigte eine Familie in einer bedrückenden Lage, mitten in kriegerischen Zeiten. Wurde die Familie damals von mächtigen und reichen Herrschern besucht? Wenn wir die Geschichte von damals heute neu betrachten oder sie in einer Kirche hören, wie fühlen wir uns dabei? Werden wir von irdischen Sorgen abgelenkt, oder erkennen wir, was wirklich zählt, wenn wir das Ereignis im Kreis unserer Familie feiern?
Keiner der mächtigen irdischen Herrscher ahnte damals die kommende Zeitenwende, die schließlich Hoffnung und Licht brachte.
Zum Abschluss sei noch erwähnt, dass Kater Murr III. in seiner stürmischen Flucht einen liturgischen Kalender vom Regal schubste. Der Kalender fiel auf und ein Zitat von Phil Bosmans erschien passenderweise zum Datum: “Advent und Weihnacht verkünden uns: Es kommen neue Zeiten. Am Horizont unseres Lebens steht das Zeichen der Hoffnung.”
Mehr zum Thema — Der Balkonist: Wilde Assoziationen zu den denkwürdigen Ereignissen des 6. November