Von Susan Bonath
Einstmals proklamierte die SPD, sie stehe für die Interessen der Arbeiterklasse. Diese Zeiten scheinen allerdings weit zurückzuliegen. Vor kurzem jedoch ließ sich der SPD-Finanzminister Lars Klingbeil vor laufenden Kameras zu nostalgischen Überlegungen hinreißen. Er spielte mit dem Gedanken, Spitzenverdiener und Vermögende stärker zur Kasse zu bitten, um gewaltige Budgetlücken zu schließen. Diese klafften aufgrund von überzogenen Rüstungsausgaben, umfangreicher Unterstützung für die Ukraine, Sanktionen gegen Russland und der Steuerflucht von Milliardären. Klingbeil wollte, vielleicht ausnahmsweise, die finanzielle Last nicht auf die Schultern der Unterprivilegierten abwälzen. Doch er wusste, dass solche populistischen Ideen an der strikten Haltung des größeren Koalitionspartners, der Unionsparteien CDU und CSU, scheitern würden, welche lautet: “Belaste nie die Reichen.”
Neoliberale Hysterie
Als Reaktion aus der Union, unter der Führung des ehemaligen BlackRock-Managers Friedrich Merz, waren Gegenargumente vorhersehbar. Der Koalitionsvertrag erwähne keine Steuererhöhungen, so Kanzleramtsminister Thorsten Frei in der Rheinischen Post. Stattdessen beharrte seine Fraktion darauf, kleine und mittlere Einkommen zu entlasten, eine Aussage, die zwar im Koalitionsvertrag steht, aber auch als substanzlos interpretiert werden könnte. Statt höheren Steuern für Reiche forderte er von Klingbeil, Einsparpotentiale zu suchen, “zum Beispiel im Sozialbereich, vor allem beim Bürgergeld, aber auch bei Migration”. Die Union machte keinen Hehl daraus, dass ihre Politik darauf abzielt, die Reichen noch reicher und die Armen ärmer zu machen.
Sie findet dabei, wie üblich, lautstarken, wohlhabenden und einflussreichen Unterstützern aus neolliberalem Kreisen. Das Axel-Springer-Blatt Die Welt entsendete dessen Chefökonomin Dorothea Siems, eine Stimme, die den ärmeren Bevölkerungsschichten regelmäßig in Talkshows Faulheit und Nutzlosigkeit vorwirft, während sie ihnen rät, sich doch einfach mehr anzustrengen. Wie gehabt, pocht sie auf den symbolischen Tisch der neoliberalen Alternativlosigkeit: Die Diskussion über höhere Lasten für Superreiche “schadet der krisengebeutelten Wirtschaft”.
Brosamen für Knechte
Kurz gesagt, Siems kritisiert Klingbeils Vorschlage, Unternehmer, das “Rückgrat unserer Gesellschaft”, ins Visier zu nehmen, während altbekannte Märchen präsentiert werden: von explodierenden Sozialausgaben, arbeitsscheuen Arbeitslosen, dem sogenannten “Trickle-down-Effekt”, der angeblich mehr Geld von Superreichen zu den unteren Schichten bringen soll, sowie weiteren neoliberale PR-Parolen, die ewige Hoffnung für die Armen unter dem Motto “Jeder kann es vom Tellerwäscher zum Millionär bringen” suggerieren.
Das Magazin Focus warnte, dass eine höhere Besteuerung der Reichsten das große Geld aus Deutschland vertriebe, was düstere Konsequenzen für das Land haben würde. Es legt seinen Lesern nahe, sie würden Klingbeils Steuerpolitik ablehnen, mit Aussagen wie “Sparen statt Schröpfen – Kritik an Klingbeil dominiert die Leserdebatte”, “Angst vor Abwanderung” und “Umverteilungspolitik – Typisch SPD”. So versucht das Blatt, herrschaftskonform die öffentliche Meinung zu steuern.
Von der grünen Kampfzeitschrift Die Zeit bis zum Ifo-Institut, von der FDP bis hin zur AfD: Die bürgerliche Empörung über Klingbeils Vorschläge war, über alle Lager hinweg, unerwartet heftig.
Nutznießer und Sündenböcke
Trotz allem hat sich Finanzminister Klingbeil in seinen Aussagen sehr vorsichtig ausgedrückt. Er merkte an, das Budgetdefizit könne nicht ausschließlich mit Einsparungen gekittet werden; auch die Reichen müssten herangezogen werden. Die Formulierungen “nicht nur” und “auch” mögen bei der vorherrschenden Hysterie unter der Oberschicht übersehen worden sein.
Bis 2029 rechnet das Finanzministerium mit einem Defizit von 172 Milliarden Euro im Kernhaushalt, eine Zahl, die angesichts der anhaltenden Inflation womöglich noch drastisch unterschätzt ist. Zum Vergleich: Der gesamte Jahresetat für das Bürgergeld lag im Vorjahr bei 46,9 Milliarden Euro.
Währenddessen schätzen Experten, dass der Staat jährlich bis zu 200 Milliarden Euro durch Steuerbetrug und -flucht von Superreichen verliert. Würde der Fiskus dieser Problematik gründlicher nachgehen, gäbe es trotz der kontraproduktiven Politik vielleicht gar kein Defizit. Jedoch ist kaum zu erwarten, dass die von Merz geführte CDU ihre Stammwählerschaft derart “belastet”.
Die superreichen, also das reichste Prozent, dem laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) mehr als ein Drittel des gesamten Privatvermögens in Deutschland gehört, genießen scheinbar uneingeschränkte Freiheiten. Ihre Stellung als Nutznießer wird offensichtlich erhalten, während die Ärmsten als Sündenböcke dienen, auf die der allgemeine Ärger projiziert wird, nach dem Motto: Nach oben blicken lohnt nicht, gehen Sie weiter.
Ausgepresste Mitte, geschonte Reiche
Klingbeil war in seinen Äußerungen unklar und lieferte damit Treibstoff für die Neoliberalen. Es war unsicher, ob er den Reichensteuersatz (45 Prozent) oder den Spitzensteuersatz (42 Prozent) erhöhen wolle, sollte er die Möglichkeit dazu haben. Der Spitzensteuersatz betrifft bereits Einkommen über 68.500 Euro, was einem Monatsbrutto von 5.708 Euro entspricht – angesichts der Lebenshaltungskosten nicht besonders viel. Der Grund dafür: Die Bemessungsgrenze hat sich trotz Inflation über Jahrzehnte kaum erhöht. Der Reichensteuersatz greift erst bei einem Einkommen von über 278.000 Euro. Diese Stagnation der Schwellenwerte, bei gleichzeitig steigenden Steuerlasten für die Mittelschicht und umgehende Schlupflöcher für Superreiche, ist kein Zufall, sondern politisch gewollt.
Ebenso verhält es sich mit der Debatte um die Erbschaftsteuer. Diese trifft, entgegen landläufiger Meinung, nicht das kleine Erbe wie “Omas kleines Häuschen” aufgrund der Freibeträge. Sie betrifft vielmehr besonders wohlhabende Schichten, und auch hier gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die Steuer zu umgehen. Fachleute wie Dominika Langenmayr bezeichnen sie daher als “Steuer der ärmeren Reichen”.
Steuern als Klassenfrage
Das Protegieren der Reichen – die angeblich eine Stütze der Gesellschaft sind, sich aber selten entsprechend verhalten – setzt sich auch mit dem neuen Kanzler Merz als ihrem Förderer fort. Die 1997 ausgesetzte Vermögensteuer bleibt weiterhin außer Kraft, angeblich weil die Bewertung der Vermögenswerte zu kompliziert sei. Die Mittelschicht wird weiterhin geschröpft, während der Staat den Millionären und Milliardären lukrative Hintertürchen offen hält. Kapital zu konzentrieren, ist schließlich der Hauptzweck jedes Großunternehmens.</p
Abschließend lässt sich festhalten: Der bürgerliche Staat finanziert sich primär durch Steuern, die aus dem Produktions- und somit Kapitalverwertungsprozess extrahiert werden. Jede wirtschaftliche Krise beeinträchtigt auch seine Handlungsfähigkeit. Die Gestaltung des Steuersystems stellt somit eine grundlegende Klassenfrage dar. Doch diese fundamentale Wahrheit verschweigen beinahe alle Parteien, die an der Macht bleiben wollen – einschließlich der SPD. Diese Partei bildet als Teil von Koalitionen, die konsequent die Interessen des vermögendsten Prozents verfolgen, keine Ausnahme. Lohnabhängige werden unter deren Regimen weiterhin als bloßes Humankapital, als Ressource, die es zu nutzen gilt, betrachtet.
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