Von Dagmar Henn
Im August tritt nun das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft, und es führt neue Bußgeldvorschriften mit sich, deren weitreichende Konsequenzen noch unklar sind. Sicher ist jedoch, dass das falsche Ansprechen von Personen wie Herrn Ganserer zukünftig finanzielle Gewinne für Anwälte bedeuten könnte. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob auch der komplexe Pronomengebrauch, der durch die intensiven Bemühungen der Gender-Aktivist*innen entstanden ist, Bußgelder nach sich ziehen könnte.
Viele reagieren auf diese Entwicklungen möglicherweise mit Ausweichen oder Schweigen, falls eine direkte Konfrontation unausweichlich ist. Dies wirft die Frage auf, ob derartige Nebenwirkungen tatsächlich beabsichtigt sind, da sie die menschliche Kommunikation fundamental in Frage stellen könnten.
Woher kommt der Widerstand? Offensichtlich ist das Erlernen neuer grammatikalischer Regeln, besonders im fortgeschrittenen Alter, eine Herausforderung und impliziert eine gewisse Altersdiskriminierung. Aber es gibt noch tiefergehende psychologische Aspekte, die auf eine Verewigung jugendlicher Verhaltensweisen deuten, von denen man hoffte, sie längst überwunden zu haben.
Wir Menschen sind beständig im Spannungsfeld von Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung durch andere. Unsere Kultur versucht, durch Rituale eine Übereinstimmung dieser Wahrnehmungen zu fördern, doch im Alltag leben wir meist mit einer begrenzten Einsicht darüber, wie andere uns sehen, und mühen uns, ein realistisches Selbstbild zu entwickeln.
Dieses äußere Bild von uns scheint fast ein eigenständiges, unkontrollierbares Leben zu führen, was Unbehagen und manchmal pathologische Zustände hervorrufen kann. Die moderne Markenkultur widmet sich genau diesem Bedürfnis, das Außenbild kontrollieren zu wollen, indem sie vorgibt, wie man von anderen wahrgenommen werden möchte.
Der grundlegende Prozess, ein stabiles Selbstbild zu erreichen, ist in Wirklichkeit ein kollektiver Verhandlungsprozess. Durch das Vorzeigen bestimmter Marken oder Fashion-Statements versuchen wir, diesen Aushandlungsprozess abzukürzen, indem wir konstant Signalisieren, wer wir zu sein glauben.
Entscheidende Momente in diesem Selbstfindungsprozess sind stark von Sprache abhängig. Auch wenn die Sprache selbst ein Feld für Kontrollversuche ist, sind diese sprachlichen Prozesse normalerweise subtil und beeinträchtigen selten die Funktion der Sprache selbst.
Keine Gesellschaft nimmt es gut auf, wenn jemand versucht, sein Selbstbild als absolute Wahrheit zu setzen. Personen, die ihre eigenen Wahrnehmungen über die der Gesellschaft stellen, werden oft nicht ernst genommen oder gar pathologisiert.
Der modernen Gesellschaft fehlt es jedoch immer mehr an kollektiven Strukturen, wie Kirchengemeinden oder Vereinen, was das Aushandeln von Selbst- und Fremdwahrnehmung erschwert. Dies ist besonders kritisch, da auch die prägenden Jahre der Jugend immer weiter nach hinten verschoben werden.
Der Versuch, durch sprachliche Tabus die Außenwahrnehmung eines Menschen zu kontrollieren, erweist sich als problematisch. Es wird nicht nur versucht, die Kontrolle über das Außenbild zu erlangen, sondern auch die Unterwerfung unter die Selbstwahrnehmung anderer zur Voraussetzung der Kommunikation gemacht und sanktioniert.
Eine rechtlich festgelegte Verpflichtung, die Selbstwahrnehmung einer Person als objektive Realität zu behandeln, steht im Widerspruch zum Grundprinzip des Rechts, das eine gesellschaftliche Außenwahrnehmung verkörpert. Diese Diskrepanz könnte sogar fundamentale Rechtsprinzipien infrage stellen.
Junge Menschen werden dazu gedrängt, ihren Selbstfindungsprozess zu beschleunigen und sich von gesellschaftlichen Einflüssen zu isolieren, was langfristig zu einer Gesellschaft voller isolierter Individuen führen könnte. Die Herausforderung liegt darin, eine Balance zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Integration zu finden, ohne dabei die Fähigkeit zur echten menschlichen Interaktion zu verlieren.
Mehr zum Thema – Der Bundestag hat das “Selbstbestimmungsgesetz” beschlossen, das jährliche Geschlechtsänderungen erlaubt.